Retrospektive #10 Jahrgang 2

Irgendwie empfinde ich Retrospektive saisonal ungebundenen Jahresrückblick und sah mich zum Jahreswechsel auch nicht genötigt, mich in die illustren Wiederkäuer eines verhalten interessanten Jahres einzureihen.
Trotzdem: Zeit verrinnt absolut gerecht, und wenn mancher auch operativ, delegierend oder durch gesunden Lebensstil, ein oder zwei Zeitscheiben mehr für sich herausholt – jede Sekunde, Minute, Stunde ist von erheblichem wie unwiederbringlichem Wert. Insofern war ich ziemlich erfreut, das ich letztes Jahr 25 Stunden Geburtstag feiern konnte, denn die Winterzeit hatte mir eine Stunde zum Geburtstag geschenkt.

Minarette verbieten, aber Kirche im Dorf lassen?

Überall hört man derzeit, wie pfleglich die kritisch unsere Medien mit dem Schweizer Minarettverbot ins Gericht gegangen seien. Dabei finde muss man Minarettvergleich deutscher Qualitätsmedien nicht mitzählen, aber ganz losgelöst von der aufkommenden Diskussion um ein Minarrettverbot in Deutschland muss im selben Atemzug auch jedes Kirchenhaus abgerissen werden. Gerade die christliche Kirche, die sich derzeit als global verfolgte Organisation dargestellt wird – insbesondere von unserer neuen Familienministerin Köhler, ist in ihrer Geschichte ein nie dagewesener, offensiver und kompromissloser  Missionierungs- und Kriegsapparat im Namen des Glaubens gewesen. Da entgegen zu halten, das die hier lebenden Moslems durch eigene Gotteshäuser ihre Religion verbreiten wollten, grenzt da schon an Geschichtsrevisionsmus, ganz sicher aber ist es ein Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit.

Im Gegensatz zu Kirchtürmen rufen von Minaretten Menschen zum Gebet, der Bequemlichkeit halber und des Audiosmog wegen in den vielen Fällen übrigens über Lautsprecher, oft von zentral per Funk angesprochen.
Jüngst hatte das zur Folge, das in einer Stadt statt des Rufes zum Gebet plötzlich Schlagermusik von jeder Moschee ertönte. Das nenne ich mal kreative Kritik, und die verhaltene Reaktion der Verantwortlichen zeigt auch, das von dem religiösen Fundamentalismus, von dem Familienministerin Köhler ab und an spricht, und von der “modernen Christenverfolgung” bei weitem keine Rede sein kann, ansonsten wäre unter diesen Umständen sicherlich andere Reaktionen zu erwarten gewesen.

Google reicht Verlegern die Hand

Im Wall Street Journal veröffentlicht »How Google Can Help Newspapers« von Eric Schmidt, Chef von Google, einen Schritt auf die Verleger zu, und in einem Satz ein paar Schritte zurück: »With dwindling revenue and diminished resources, frustrated newspaper executives are looking for someone to blame.« Obwohl zunächst Bundesjustizministerin Brigitte Zypries und zuletzt sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel auf den Zug aufgesprungen ist und sich mit dem "Heidelberger Appell" geködert vom "Qualitätsjournalismus" vor den Karren spannen lies: Der Wandel ist längst vollzogen, es ist nun an den Verlagen ihre Qualität wiederherzustellen oder in weiteren fünfzehn Jahren von Pauken und Trompeten mit ihren Surfbrettern auf einer Sandbank zu kentern. Dies ist wieder nur ein weiteres Beispiel für den Verlust der Moderationsfähigkeit der Politik zwischen den Interessenvertretern, derer im Fall von "paid content" beihnah so vielzahlig sind wie die sagenumwobebene "werberelevante Zielgruppe".

Prostitudent™

Der Medien-Dienst Kress kündigt neuen Pro 7-Gassenhauer an:
3 junge Männer wettgeifern darum, wer zuerst 50 junge Studentinnen bzw. Studenten "flachzulegen" vermag. Vom Januar an bläst der ehemalige Kirch-Sender zum Angriff auf die Studentenbuden, ganz unter dem Motto "Sex sells" und dem äußerst kreativen Titel "50 pro Semester" darf man gespannt sein ob der Niveausinkflug hier ein Ende findet oder nach der vojeuristischen Bruchlandung neue Tiefpunkte erklommen werden. "Bauer sucht Akademiker" vielleicht, oder "Nobelpreisträger meets Barbie"?
Update: Pro 7 verzichtet vorerst auf "50 pro Semester".

"Bologna-Reform"-"Reform"

Apropos Studenten: Neulich behauptete ja die Kultusministerkonferenz, unter dem Eindruck des Bildungsstreik sei ihnen eine Reform der Bologna-Reform gelungen. In einigen Stichworten wurde diese "Bologna-Reform"-"Reform" bei »Guardian of the Blind« seziert. Bedenkt man, das die hiesige Bildungspolitik Ländersache ist und damit in Händen mindestens von über 33 Ministern aus Bund und Ländern liegt, ist mit einem Fortschritt in der Schul- und Hochschulpolitik ohnehin nicht zu rechnen. Deutschland wirtschaftet seine Schulen und Hochschulen herunter, und das unter den Augen einer vom Bildungsfernen Kampagnenjournalismus manipulierten Öffentlichkeit, denn: Anders als die vorgenannte Analyse und den Betroffenen Schülern und Studenten, sind Mainstream-Medien sich einig: Die "Bologna-Reform"-"Reform" der Kultusministerkonferenz gilt als Ei des Kolumbus.

Nacktscanner: Alternativloses Tabu

Wir erinnern uns: Vergangenes Jahr trat das Nacktscanner-Konsortium noch unbeholfen an die Öffentlichkeit, der Aufschrei war erheblich und der Widerstand in der Politik “Lager”-übergreifend. Hieraus hat man gelernt:

Nur kurze Zeit nach der ersten Tickermeldung über den verhinderten Anschlag in den USA wurde über die einschlägigen Mainstream-Medien wieder Bilder von weitaus keuscheren nackten Tatsachen gesendet und zugleich in jede Kamera versichert, mit diesem neuen Gerätetyp sei Würde und Privatsphäre so sicher wie der Luftraum. Meinungsumschwung bei Nacktscannern titelte Heise treffend, und bei Metronaut sagt ein Bild und eine Überschrift mehr als tausend Worte.

Steuerfahnderskandal bald "Affäre Weimar"

Inzwischen wird es übrigens eng im Steuerfahnderskandal: Finanzminister Weimar (Hessen CDU) steht mit dem Rücken an der Wand: Behauptet hatte er einerseits, es ginge bei den ermittelten Fällen von Steuerhinterziehung nur um Kleinstbeträge im dreistelligen Bereich, andererseits hat er jetzt eingeräumt das bei einer wesentlichen Zahl weiterer Fälle noch unbeantwortete Außenprüfungen vorlägen, diese also in Hände anderer Finanzämter übergeben wurden. Dumm nur das ausgerechnet enge Bekannte der Hessen CDU unter den hiervon Begünstigten sind, aber dazu muss der feine Herr Weimar nunmehr keine Stellung mehr nehmen, denn die nun vorliegende Behauptung ist ihrerseits unprüfbar. Ganz so erfolglos, wie der Herr Weimar das immer darzustellen versucht hat, waren die Prüfer übrigens nicht, wie die Frankfurter Rundschau weiter ausführt sind allein die von der Hinweis gebenden Bochumer Staatsanwaltschaft ermittelten Fälle insgesamt mehrere hundert Millionen schwer.

Update 20.12.2009: Jetzt wird es endgültig eng für Herrn Weimar: Der behauptet keineswegs direkter Auftraggeber gewesen zu sein, stattdessen hätten die Vorgesetzten in den und die Finanzämter an sich eine Untersuchung beantragt. Wie aus der FR vorliegenden Listen hervorgeht, waren Auftraggeber doch Andere. Hieraus ergibt sich für Weimar neue Erklärungsnot, ähnlich wie bei einem anderen jüngst aus seiner Verantwortung entlassenen Koch-Intimus, Franz-Josef Jung, der auch zunächst seinen Untergebenen alle Schuld auflud.

100 Tage SchwarzGelb

Regierungen benotet man gewöhnlich nach 100 Tagen erstmals, aber bei so einer beispiellosen Politik sei mir der Vorgriff verziehen.

120 Milliarden Euro will SchwarzGelb in der bevorstehenen Legislaturperiode unter die Leute bringen, was exakt dem Betrag entspricht, der im Schwarzbuch des Steuerzahlerbundes für das zurückliegende Jahr gemeldet wurde.

Das Verbot sittenwidrige Löhne sollte niemand mit Mindestlohn verwechseln, denn die drei Euro für die im Friseurhandwerk beschäftigten Facharbeiter sind Tariflöhne, und die diskutierte Untergrenze von 4,50 Euro soll flächendeckend – von der Nordsee bis nach Berchtesgaden, von Aachen bis Frankfurt (Oder) – gelten.

Stipendien decken wie Bafög nur einen Teil der Lebenshaltungskosten jedes Studierende, um den Preis der Abhängigkeit kontinuierlich guter Leistungen. 12 Milliarden in vier Jahren sind für Deutschlands Hochschulen nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein, und öffnen Drittmittelwerbung, Zugangsbeschränkungen und Qualitätseinbußen an den Universitäten und Fachhochschulen Tür und Tor.

FDP stoppt Internetsperren verlautbarten Mainstream-Medien vergangene Woche, etwas vorschnell. Zwar vereinbarte man »Löschen statt sperren.«, aber durchgesetzt ist das längst noch nicht. Weiterhin hörte man FDP fordert einen Verzicht auf Online-Durchsuchungen, und quasi im selben Atemzug erklärte das Bundeskriminalamt bislang sei keine einzige Maßnahme durchgeführt worden – der Widerstand hiergegen dürfte demnach gering sein.

weitere Empfehlungen

Retrospektive ist mein neues Format für all das, wofür ich keine Zeit hatte, aber was unter gar keinen Umständen unkommentiert bleiben darf. Retrospektive erscheint in loser Folge, zu willkürlichen Zeitpunkten, ein Anspruch auf eine Retrospektive entsteht dem Leser hierdurch nicht. 😉

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