Merkel und Wulff: Dialog, in Echtzeit

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Christian Wulff haben sich in kurzer Folge zu den Umwälzungen in der öffentlichen Meinung zu Wort gemeldet, und wie ich finde in keineswegs versöhnlicher Weise.

Bundespräsident Wulff vermisst privilegierten Zugang zu Massenmedien

Zunächst vergingen keine 24 Stunden, da bekannte unser neuer Bundespräsident seinen privilegierten Zugriff auf die Dialog-freien Massenmedien zu vermissen. Früher hatten Politiker privilegierten Zugang zu den am darauf folgenden Tag über sie publizierten Fakten und Fiktionen. Da konnte noch vor der Veröffentlichung Feintuning an der betroffenen Miene oder eine halbwegs passende Halbwahrheit erdacht werden, mit der auf Enthüllungen reagiert werden kann. Das meine nicht ich, Christian Wullf meint das, und zwar im Wortlaut wie folgt:

Früher war es so, da erfuhren sie nachmittags, dass morgen irgendwas in der Zeitung steht. Da konnten Sie schon richtig stellen, da konnten Sie schon gegenarbeiten. Heute erfahren Sie, dass etwas im Internet steht und Millionen anderer haben gleichen Zugriff auf die gleiche Information. Man hat damit keinen Vorlauf mehr, um Dinge richtigzustellen.

Dabei wäre es am ersten Tag nicht Wulff selbst, der etwas richtig stellen müsste, wohl aber die Berichterstattung über ihn: Denn was da als Jubel über das neue Staatsoberhaupt aus dem Wahlstudio des Öffentlich-Rechtlichen drang, war vielmehr der der Anhänger von Gauck, die zu Dutzenden vor dem Reichstag auf der Leinwand das Gezerre verfolgten. Der Jubel galt Gauck, das Geklatsche einer Handvoll Anhänger von Christian Wulff war wohl auch kaum eine Nachricht wert.

Bundeskanzlerin Merkel erkennt Dialog und Vielgestaltigkeit veröffentlichter Meinung

Im exklusiven, gewiss ordentlich redigierten Interview mit dem Massenmedium Bunte offenbarte Angela Merkel nun, das sie das Problem der Vielgestaltigkeit der veröffentlichten Meinung sehr wohl verstanden hat. Das sie daran aber mit ihrem vom Steuerzahler bezahlten Podcast partizipiert, und natürlich auch profitiert, da ihr Wortlaut 1:1 und nicht von den Medien vorgefiltert wird, verschweigt sie tunlichst.

Was Merkel genau zu sagen hat, zitiert heise online in „Merkel: »Das Web macht es der Politik schwer«“ mit verschiedenen Killerphrasen. Da wird vom „Gesamtmeinungsbild“ gesprochen, das nicht mehr so eindeutig festzumachen sei. Das damit die Weisheit der Vielen gemeint sein könnte, darf bezweifelt werden. Vielmehr liest es sich, als sei Merkel traurig das man nicht mehr von einer Hand voll Verlegern reflektiert bekommt, was man denen zuvor in die Notizblöcke diktiert hat, und letztlich an den Arbeitsplätzen und den Stammtischen der Republik zu diskutieren ist.

Das fehlende „Gesamtmeinungsbild“ war fraglich einfacher zu deuten, aber natürlich auch eine vereinfachte Sichtweise alias „veröffentlichte Meinung“, die dem Volk kaum noch „auf’s Maul“ schaut, sondern strategisch veranlagt war. Politiksprech, zumal als tägliche Losung vereinbart, diente dazu, wiederkehrend Notwendigkeiten zu vermitteln, damit sich der Rezipient damit vertraut machen kann, und zum Teil sicher auch um dessen Meinung davon zu sondieren. Das wurde allerdings verlernt: Massenmedien verdauen zunehmend unzerkaut, im schlechtesten Fall politisch eingefärbt. Gutes Beispiel dessen sind die einschlägig „links“ oder „rechts“ verorteten Tageszeitungen, denen die Leser des jeweils anderen Lagers keine Aufmerksamkeit oder Glauben mehr schenken. So wurde aus der Presselandschaft Monokultur, aus öffentlichem Schlagabtausch zwischen politischen Positionen Einheitsbrei, aus unabhängiger Presse Gefälligskeitsjournalismus bis hin zur Hofberichterstattung für den exklusiven Zugang zu Details. Und damit meine ich den Verlauf der letzten Jahrzehnte.

Heute stehen Presseorgane über das Netz in noch stärkerer Konkurrenz zueinander und erleben einen nie dagewesenen Veröffentlichungsdruck, dem Konkurrenten auf dem verhassten Google News um eine Viertelstunde zuvor zu kommen und somit mehr Klicks zu generieren – und also Werbeflächen zu vermarkten. Damit wanderte das Feld stringenten kritischen Journalismus, mit tiefgehenden Reportagen und spitzen Kommentaren zunehmend in ein ebenso verhassten wie belächeltes Format:
Blogs.

Deutschland ist heute noch lange nicht dort, wo es seiner publizistischen Tradition verpflichtet mit Blogs sein könnte. Die veröffentlichten Meinungen sind weder systematisch lokalisiert, noch beschäftigen sie sich in der vollen Breite der Berichterstattung, die klassische Massenmedien heute – noch – bedienen. Die nachhaltige Debatte, die über Stammtische, Mensa und Kantine hinaus gehen, steht noch aus, ist aber nur aufgeschoben.

Natürlich hat Merkel Unrecht, wenn sie diagnostiziert es gäbe »nicht mehr nur eine Öffentlichkeit, sondern viele Öffentlichkeiten, die ganz verschieden angesprochen werden müssen.« Selbstverständlich bleibt es weiterhin nur eine Öffentlichkeit, aber eben viele Meinungen. Meinungen die heute einfacher denn je kommuniziert und transportiert werden können. Die Öffentlichkeiten »die ganz verschieden angesprochen werden müssen« verwechselt Merkel mit den unterschiedlichen Kanälen, derer es in Zukunft bis zu 82 Millionen in Deutschland geben könnte. Dann nämlich wenn veröffentlichte und öffentliche Meinung ineinander übergehen und ineinander verschwimmen. Das ist zugleich der Rettungsanker für die klassischen Medien, denn sie können sich wieder der professionellen Berichterstattung widmen, während die Meinung nicht mehr vom Multiplikator Massenmedien vervielfältigt, sondern sich anhand ihrer erst bildet.

Trotzdem scheint es nicht im Interesse der Verleger zu liegen, vielleicht weil es mit einem Kontrollverlust einhergeht. Die ehedem als Kontrollinstanz in der Verfassung verankerte Presse ist daher mit der Politik eine unheiligen Allianz eingegangen, die das Leistungschutzrecht für die Presse zum Ziel hat, die aber nicht nur der Refinanzierung des Journalismus, sondern vor allem dem gegenseitigen Machterhalt dient. Merkel verschafft der Presse „zu deren Schutz“ eine nie versiegende Geldquelle, ganz unabhängig von Qualität und Unabhängigkeit. Wer publiziert, partizipiert. Das dürfte den Trend zu schnellerer, unsauberer Recherche und einstudierten, reflexartigen „Meinungsberichten“ Vorschub leisten und wäre kontraproduktiv.

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