Nirgendwo ein Allheilmittel

Nirgendwo

Im aktuellen vorwärts (06-07/2015) kommt unter „Meinung“ (S. 26) Rainer Wendt, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) für das „Pro“ zu Wort. Die einleitenden Worte sind schon ein Brüller.

Vielleicht wäre der NSU-Untersuchungsausschuss zu besseren Ergebnissen gekommen, hätte er nachvollziehen können, mit wem Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in den Monaten vor ihrer Entdeckung fernmündlich Kontakt hatten. Da hatten es die französischen Behörden nach den Attentaten von Paris schon besser, mit Hilfe des Einblicks in die Kommunikationsvergangenheit der toten Terroristen konnten Hintermänner aufgespürt und festgesetzt werden.

Und weiter heißt es da:

Auch in Hunderten von Ermittlungsverfahren, in denen Kinder Opfer waren, die sexuell missbraucht worden waren, musste die Polizei Fehlanzeige bei der Täterermittlung melden, wegen fehlender Speicherung der Verkehrsdaten gingen diese ins Leere.

Und in dem Zusammenhang zitiert er den NRW-Innenminister Ralf Jäger, der diesen Zustand »nah an der Strafvereitelung« nannte.

Nun denn, dann hätten sich dessen alle strafbar gemacht. Ganze Generationen konservativer Innen- und daher Sicherheitspolitiker, alle Landes- und Bundespolizisten, alle Staatsanwälte und Richter hätten sich strafbar gemacht, nämlich nicht zu veranlassen das Daten gehortet werden, während sie entstehen. Denn wenn Daten alles sind, das die Aufklärung schwerer Straftaten ermöglicht, sind die Daten alles was unsere Behörden bei deren Aufklärung brauchen. Der sonntägliche Tatort könnte im Cyber-Abwehrzentrum gedreht werden, dessen Existenzberechtigung zuletzt beim Angriff auf den Bundestag nicht gemacht wurde. Von dort aus könnten die Ermittler Datenspuren nachgehen, anstatt erst müßig Spurensuche vor Ort zu betreiben. Mit Hilfe der Videoüberwachung könnten sie aus der Ferne auf den Tatort zugreifen und den Tathergang rekonstruieren. Und natürlich ist der nächste Schritt schon vorprogrammiert: Wenn man die Aufklärung schwerer Straftaten halbautomatisieren kann, indem man den Tätern beinah über die Schulter schauen kann, dann ist die Verhinderung schwerer Straftaten durch Totalüberwachung nur Recht und billig.

Aber ich schweife ab. Denn zunächst geht es natürlich darum die Ermittlungsmittel zu heiligen, denn erstmal werden die schweren Straftaten nicht seltener. Es geschahen weiter schwere Straftaten, obwohl sie zukünftig angeblich leichter aufgeklärt werden können. Dass die Polizisten jeher auch ohne anlasslose Speicherung aller Verkehrsdaten Kommunikationsdaten Metadaten aufklären konnten, und zwar durch herkömmliche Polizeiarbeit, wird übergangen. Bewusst, um Kritikern keine Argumente validieren, unbewusst, weil man allein auf das Ziel gerichtet nur Argumente dafür sucht; einerlei. Aber alles andere als die Speicherung zum Zweck der Strafverfolgung ist eben: Totalüberwachung. Und also ist die einseitige Auseinandersetzung das Streben nach einem Überwachungsstaat.

Die hatten wir auch schon mal, zuerst eben vor dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, aber auch später hinter dem Eisernen Vorhang. Ersterem wurden wir entledigt, letzterem entledigten sich die 30 Millionen Menschen hinter dem Eisernen Vorhang selbsttätig und trotz der massenhaften Vorratsdaten, die über sie über Jahrzehnte gesammelt wurden und mit deren Hilfe man sie erpresst hat. Und sie beseitigten das System, das sie zuletzt an öffentlichen Plätzen sogar mit Videoüberwachung observierte, sodass die Deutschen „Demokratischen“ „Republik“, in Persona der Staatssicherheit, offenen Auges mit ansehen konnte, wie sich der Widerstand formierte und in wöchentlichen Wellen über sie hereinbrach. Trotzdem die Offiziere der Staatssicherheit immer mehr und mehr Berichte schrieben, obschon sie immer mehr Oppositionelle identifizierten, trotzdem ihre Handlanger härter gegen maßgebliche Rädelsführer vorgingen fühlten sich Woche um Woche mehr Menschen ermutigt auf die Straße zu gehen und das Wort gegen diesen Unrechtsstaat zu erheben, auf der man vorher nicht einmal hinter vorgehaltener ein offenes Wort gegen denselben verloren wurde. Trotzdem man Jahrzehnte lang Strukturen geschaffen hatte, die 40 Jahren hielten, hielt es nur einer gewissen Zahl Oppositioneller stand. Man inhaftierte was die Gefängnisse hergaben. Und dennoch überrollte der überwachte und eingepferchte Part im Staat den Apparat nahezu überfallartig.

Die Staatssicherheit hatte den break even der Freiheitsbewegung verschlafen. Als die kritische Masse auf den Montagsdemos erreicht war, wurde das zwar zur Kenntnis genommen. Es wurden Berichte geschrieben, es wurde Gericht gehalten, und mancherorts wurden die üblichen Verdächtigen aus dem Verkehr gezogen. Aber es gelang der Stasi nicht mehr die Masse unter Kontrolle zu bringen, Einzelne in der Masse zu identifizieren oder gar die Wesentlichen, weil Wortführer. Innerhalb weniger Wochen war ein über Jahrzehnte „perfektioniertes“ Überwachungssystem an seiner eigenen Skalierung gescheitert.

Und, um zum Anfang zurück zu kommen und eine Analogie herzustellen: Seit 70 Jahren findet im (zunächst nur westlichen) Nachkriegsdeutschland weitgehend überwachungslos Kommunikation statt, und niemand würde behaupten wir leben in einem Unrechtsstaat, denn wenn eines auch ohne Totalüberwachung funktioniert, dann die Strafverfolgung, auch in Fällen schwerer und schwerster Straftaten wie Terrorismus und sexueller Gewalt gegen Kinder findet statt und ist ausweislich der Aufklärungsquoten das erfolgreichste Segment derselben.

Mit wenigen Ausnahmen: Dort wo der Staat versagt, weil dessen geheime Instanzen mitmischen, wie beispielsweise beim Rechtsextremismus. Oder dort, wo gar keine offene Kommunikation stattfindet, wie bei sexueller Gewalt gegen Kinder. Und beides findet statt, wenngleich selten. Das eine im abgeschotteten extremistischen Spektrum, das andere findet fast ausschließlich im familiären Umfeld statt. Und die Befürworter behaupten allen Ernstes in diese Bereiche mit einem klassischen Mittel der Fernmeldeaufklärung einzudringen. Dasselbe haben die USA vor 9/11 versucht, und sind ausweislich geschriebener Geschichte gescheitert.

Vor 25 Jahren hätte digitale Vorratsdatenspeicherung zu einer ganz anderen Geschichtsschreibung geführt. Und heute lenkt sie von historischen Problemen ab, für die auch sie keine Lösung bietet.

Dass die SPD sich vor diesen Karren spannen lässt macht sie zu keinem geringeren Verantwortlichen als die Union. Wenn sich, um bei der Wortwahl von SPD-Innenminister Jäger zu bleiben, jemand der Strafvereitelung schuldig macht, dann doch jene die mit Placebos Polizeiarbeit machen wollen, wie eben auch jener Polizeigewerkschafter beim Pro zur Vorratsdatenspeicherung im vorwärts. Ich nehme das der CDU nicht einmal übel; nachdem CDU-West die Blockpartei CDU-Ost seinerzeit samt Kader und Kapital 1:1 vereinnahmte, habe ich nur darauf gewartet, dass auch das System sukzessive Eingang in deren Weltbild nimmt. Aber die »Freiheit und Sicherheit, Gerechtigkeit, Solidarität« im Banner vor sich herführende SPD hätte Besseres verdient einen Bullshit-Bingo-Abend, der sich seit Jahren wiederholt. Und ja, auch für die Opfer würde ich mir mehr wünschen als Placebo.

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