Doppelmoral im Reinraum

Vor einem halben Jahr dekorierte die größte Schlagzeilenschleuder des Landes über Wochen ihre digitalen und papiernen Titelseiten mit der Berichterstattung zu einer abscheulichen Gewalttat zweier ausländischer Jugendlicher. Nach Verbüßung der Strafe müssten Ausländer abgeschoben werden, so das Patentrezept der Zeitung wie auch manches wertkonservativen Politikers seinerzeit. Wie viel Raum ein Überfall (in Lesart der Schlagzeilenschleuder: »Übergriff«) von vier mutmaßlicher rechtsextremer Gewalttäter auf ein Zeltlager der Jugendorganisation von Die Linke einnimmt, kann man dagegen am nebenstehendem Bild ablesen. Hervorgehoben darauf der zugehörige Zweizeiler nebst Überschrift, eingekeilt zwischen Leserfotos einer missglückten Zugfahrt und Allgemeinplätzen zum Verlauf der Konjunktur.

Besser immerhin als die hessischen Christdemokraten, die auf den Vorfall überhaupt noch nicht eingehen. Während man im Wahlkampf noch gegen kriminelle Ausländer agitierte und hierfür sogar Beifall der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands in Empfang nehmen musste, befindet sich »brutalstmögliche Aufklärer« der Nation im Vorwahlkampf auf Sommertour und seine Partei in Sommerpause.

Wohlgemerkt, hierbei handelte es sich nicht um ungezählte Einschüchterungsversuche der Rechten, wie sie im Vorfeld des Überfalls wohl auch stattgefunden haben. Das Zeltlager wurde von mehreren gewaltbereiten Rechtsextremen gestürmt, ein 13 Jahre altes Mädchen dabei mit einer Flasche und einem Klappspaten so verletzt, das sie ohne ärztliche Behandlung nicht überlebt hätte.

Natürlich, bei den Tätern handelte es sich nicht um Ausländer ohne Lobby und Wahlberechtigung, sondern um eine Klientel deren Vorgehen ein nicht unwesentlicher Teil der eigenen Wähler- und Leserschaft insgeheim gut heißen mag. Trotzdem wäre eine Doppelmoral, durch Tolerierung rechtsextremer Gewaltakte einerseits und im Rahmen von Wahlkämpfen inszenierte Empörung über ausländische Straftäter andererseits, eine neue Qualität konservativer Leitkultur.

Dennoch belegen konservative Politiker und Medien derzeit ihre kooperative Doppelmoral im Reinraum des Sommerlochs: Einerseits darf sich Roland Koch im Vorwahlkampf nicht erneut die Finger verbrennen. Andererseits sind drei rechtsextreme Gewalttaten rechtsextremer Alltag und Berichterstattung auf Seite 1 wohl schon Dank wert.

Dumm nur, wenn sich die veröffentlichte Meinung zunehmend eben nicht mehr nur aus einige großen Verlagshäusern speist, sondern über andere Medien ein Urteil bilden kann. Beobachter der NPD allgemein und dieser Doppelmoral im Speziellen werden mehr und machen sich auf die hiesige Medienlandschaft umzukrempeln. Herrn Koch und Herrn Diekmann sei daher geraten, einfach mal was zu tun statt nur so zu tun. Maulhelden gibt es genug, die Zukunft gehört den Helden des Alltags.

Update, 9:22 Uhr: Die Schlagzeile wandert um eine Position ab und klebt mit den Allgemeinplätzen zur Wirtschaftslage der Nation direkt vor ein paar einzeiligen Meldungen, nach denen es mit Boulevard und Sport weiterzugehen scheint, mit anderen Worten: Vermutlich schafft es ein gezielter und angekündigter Überfall von Tätern mit rechtsextremem Hintergrund nicht »above fold«, also über die Falte und gerät somit aus dem Blickfeld.

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