Pr0ndreh an öffentlichen Orten
Pendler sind in sich gekehrte Wesen. Geringste Anzeichen an sie gerichteter Kommunikation führen zu verstörten Reaktionen. Die Zeiten höflicher Nachfrage, ob der Platz noch frei sei, sind trotzdem vorbei. Inzwischen herrscht das Gesetz der Wildnis, und Mutter Natur. Denn so Zombie-haft das Verhalten scheint, das der gewöhnliche Pendler an den Tag legt, bei genauerer Beobachtung offenbart die in Bewegung gesetzte Masse Ameisenstaat-ähnliche Zweck- und Verhaltensbestimmtheit. Jeder Reisende sucht beispielsweise größtmögliche Intimsphäre, das manifestiert sich darin das in Zügen des öffentlichen Personennahverkehr Gaußsche Normalverteilung herrscht: Ganz gleich, wie weit die nächste freie Sitzgruppe entfernt ist, dort anstatt in der nächstgelegenen, wenn auch nur mit einem Mitreisenden belegten Vierergruppe wird Platz genommen. Genau so funktioniert das mit den für Rollstühle, Kinderwagen und Fahrräder „reservierten“ Stellflächen, auch hier sind jeweils vier eingeklappt Sitzplätze angebracht. Hier allerdings gleicht das Verhalten weniger dem eines intelligenten Ameisenstaates und schon mehr dem schon erwähnten Zombie-haften, autostischen: Wenn vor der Türe ein Radfahrer wartet, er sich die Position der Stellfläche vielleicht gemerkt hat und es ihm gelingt als einer der ersten Fahrgäste einzusteigen, sollte er doch mindestens der zweite Passagier sein, der durch die Türe tritt, und es sollte auf den beiden sich einander gegenüber platzierten Flächen nicht bereits ein Reisender Platz genommen haben. Denn sonst passiert, was immer passiert: Im neuen Passagier werden ererbte Instinkte wach, er mutiert zum Jäger und Sammler, erkennt gleich die nächstgelegene freie Intimsphäre und nimmt sie für sich in Besitz. D.h. ein Reisender nimmt auf der einen Stellfläche Platz, der Nächste setzt sich ihm gegenüber. Behinderte sehen dann seltener in die Röhre, ihnen gegenüber herrscht wohl noch ein gewisses Schamgefühl, das wohl mit dem Verbot, denjenigen anzugaffen, in der Kinderstube anerzogen wurde. Mütter wiederum wissen sich mit ihren Rammböcken Platz zu verschaffen. Radfahrer dürfen von hier an stehen. Dabei haben sie nicht nur die beste Aussicht nach draussen, wenn sie denn nicht gerade 1,94 Meter groß sind und darum mit dem Fensterrahmen vorlieb nehmen müssen, ihre Aussicht ist dann auch in den Waggon hinein bestens. Aussicht beispielsweise auf genau die fehlende Intimsphäre des Pr0ndreh an einem öffentlichem Ort, an dem Tag für Tag vier S-Bahn-Linien, zum Teil im Viertelstundentakt, in zwei Richtungen vorbeirauschen, und damit eben jenen normalverteilten Pendlern ihre hart erarbeitete Intimsphäre wieder berauben, indem man sie nun am Platze, in ihren Sitzgruppen dabei ertappt, wie sie, die nie, niemals, nicht Pr0n konsumieren, plötzlich im Vorbeifahren faziniert auf das korpulierende Pärchen starren, das in aller Öffentlichkeit, am Harald-Ganser-Platz, vor laufender Kamera und vorbeirollenden Pendlerströmen etwas verruchtes verströmen.
Begebenheiten wie diese müssen es sein, die Papst Ratzinger und Bischof Mixa gemeint haben, als sie unsere Gesellschaft und den Werteverfall für die um sich greifenden Vergehen von Kirchenvertretern an Kindern und Jugendlichen für ursächlich erklärten. Das man mit solchen Fällen als Kirche dann nicht hausieren geht, geschenkt. Wenn gegen entsprechende Täter nicht angemessen vorgeht, passiert auch anderswo. Wenn aber Ratzinger allen katholischen Kirchenvertretern ein Schweigegelübte auferlegt und das Fehlverhalten somit dem öffentlichen Raum, öffentlicher Wahrnehmung und sogar Strafverfolgung entzieht, ist Zeit darüber nachzudenken, ob der „Kirchenstaat“ im Staat noch zeitgemäß ist.