Das »liebe Volk«
Seit Tagen geht geht mir der Adressat von Höckes Rede nicht mehr aus dem Kopf, der auch in vielen Analysen als Titel diente: das »liebe Volk«.
Ein merkwürdige Adressat, wie ich fand, und ich erinnerte mich finster das schon mal irgendwo gehört und gelesen zu haben.
Da ich zwar nicht annehme, das Höcke ein Fan von Quentin Tarantino ist, wohl aber ein eifriger Freund alternativer Fakten, habe ich eine Theorie: In einer alternativen Realität, der von Inglourious Basterds, in der Hitler erst von Maschinenpistolensalven zerfetzt und dann in die Luft gejagt wird, kommt das »liebe Volk« genau so zur Sprache: »Heydrich verabscheut ja den Spitznamen, den das liebe Volk von Prag ihm verliehen hat. Allerdings der Grund, warum er den Spitznamen ‚Der Henker‘ nicht mag, ist mir schleierhaft. Zumal er alles in seiner Macht stehende getan hat, um ihn zu verdienen.« so SS-Standartenführer Hans Landa, gespielt von Christoph Waltz, ziemlich am Ende. Höcke stellt das »liebe Volk«, die Anwesenden und sich selbst in diesem Szenario also an die Seite der Prager Bevölkerung unter deutscher Besatzung, das sich dieser – und später auch der russischen Besatzung widersetzten. Übertragen auf das heutige Deutschland allerdings bedeutet das, das er sich und sie als Widerstand gegen die so verstandene alliierte Besatzung nach dem zweiten Weltkrieg versteht. Dann wäre Höcke gewissermaßen Reichsbürger, ein Reichsbürger der sich für seine Reden von einem Film eines Juden und eines Antifaschisten bedient, dessen Höhepunkt in einem Hitler-Attentat kulminiert.
Unwahrscheinlich aber appetitlicher als eine andere Fundstelle von das »liebe Volk«. Und da sich Höcke längst von allen Parallelen aus dem Wortschatz aus dem finsteren Zeitalter längst distanzierte wird die andere mögliche Vorlage noch unwahrscheinlicher. Der folgende Text entstammt einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit baden-württembergischen Verwaltung, und ist ein gekürztes Transkript eines nicht ganz unbekannten Protagonisten des Dritten Reich:
»Ich sehe es als das Wichtigste an, daß wir Persönlichkeiten entwickeln […] und nicht den sturen, stupiden – entschuldigen Sie den Ausdruck – Verwaltungsbeamten. Dieser schult sich an seinen Vorschriften und lernt sie auswendig, tut nichts Böses, tut aber auch ja nichts Gutes. […] Wir müssen unsere gesamten Beamten dazu erziehen, daß nicht das liebe Volk für sie da ist, sondern daß wir für das Volk da sind.«(Reichsführer-SS und Reichsinnenminister Heinrich Himmler, 1944; (PDF))
Eine dritte wesentliche Fundstelle ist ein einschlägiger Buchtitel »Das liebe Volk«, ein eher zweifelhaftes Werk, aus dessen Innern die FAZ etwa sublimiert: »Die Menschen seien nicht gleich, und Gerechtigkeit heiße nicht Gleichheit, sondern „Jedem das Seine“.« Wieder so eine altbekanntes Unwort aus einem längst veralteten Wortschatz.
Gibt man »liebes Volk« in eine Suchmaschine ein, umrahmt von Hochkommata, schließt die beiden Suchbegriffe Höcke und AfD aus, und sucht nun so nach Fundstellen, die vor der Rede von Höcke veröffentlicht wurden, trifft man nicht auf viele andere als die vorgenannten.
Vielleicht gefiel dem Geschichtslehrer a.D. Höcke der Adressat »liebes Volk« einfach so, historisch völlig unbelastet und von keinem der hier genannten Werke oder ganz und gar uninspiriert.
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