Die letzte Leichenschau, oder: 1:800.000.000

Meine Frau machte mich darauf aufmerksam, ihr wurde der vermeintlich denglische Begriff "Public Viewing" von einem Muttersprachler als das übersetzt in das was es im Englischen bedeutet, Leichenschau nämlich. Ruft man mein bevorzugtes Wörterbuch auf und befragt das danach, wird einem das zudem noch als einzige Deutungsmöglichkeit geliefert. In Darmstadt wie vermutlich überall im Land war der Andrang ausgerechnet bei den letzten beiden Spielen so plötzlich zurück gegangen wie der Erfolg der deutschen Mannschaft beim ersten Spielim Turnier. Das "Jogi" und "unsere Jungs" es über die Vorrunde brachten, durfte öffentlich geunkt werden, ohne das eine Steinigung zelebriert wurde. Das weltweit von fast 800 Millionen Zuschauern verfolgte Finale der letzten Weltmeisterschaft dürfte auch hierzulande, wo "Die Welt zu Gast bei Freunden.™" war, bis auf die Zielgrade Zuschauer angezogen haben.

Dieses Mal sollte das anders sein. Der motorisierte Fan, so mein subjektiver Eindruck, demontierte zu einem gewissen Teil Schwarz-Rot-Gold noch vor dem Spiel um Platz 3. Analog dazu lies das Gedrängel rund um die beiden großflächigen Leinwände auf dem Marktplatz zu wünschen übrig. Das Darmstädter Echo berichtet im Anschluss an den Sieg der deutschen Mannschaft seien "im Stadtgebiet Darmstadt rund 300 Personen durch den City-Tunnel" gezogen, wo bei der vorangegangenen WM kaum noch ein Blatt Pergamentpapier zwischen die Feiernden passte.

Als ich mich gestern zum zweiten Mal bei dieser Fussballweltmeisterschaft dem Gemeinschaft-stiftenden "Public Viewing" anschloss, bestätigte sich die Beobachtung der Polizei vom Vortag, deren Bericht als Grundlage für den Artikel des Darmstädter Echo diente: Deutlich weniger Fans als noch in den vergangenen Tagen am Ort des Geschehens, und das noch am Vorabend zum Einsatz gekommene Trikot der deutschen Mannschaft war kein einziges Mal zu sehen. Völker verbindend ist anders, gemeinsam feierte man trotzdem.

Atmosphäre und Ausschank (kein Hefeweizen!) war dann allerdings auch nicht so überragend, als das ich unbedingt hier verweilen wollte. Da ich in der ersten Viertelstunde des Spiels noch von den beiden anderen Ausstrahlungsorten enttäuscht verspätete am Marktplatz ankam, blieb nur noch der Schlosskeller, wie sich herausstellen sollte eine gute Wahl: Das Publikum hier war übersichtlich, denn mit Ausnahme vier junger Frauen, die sich noch zudem als Mitarbeiter herausstellen sollten, ein kühler Keller, ein Hefeweizen plus Chips und ich, stand der ungestörten zweiten Hälfte – und der Verlängerung – nichts mehr im Wege.

Das vorangegangene Gemetzel der ersten Halbzeit sollte sich nicht wiederholen, die zum Teil roter Karten würdigen Fouls verübten Niederländer und Spanier nunmehr nicht mehr im Takt, sondern deutlich unregelmäßiger. Die Spanier dominierten das Spiel wie den Marktplatz, hier im Schlosskeller galt die Sympathie der inzwischen hinter meinem Rücken versammelten Angestellten hingegen den Niederländern. Mir konnte das egal sein, weil ich das Turnier offenbar anders betrachtete als die vielen Daheimgebliebenen, die 800.000.000 Menschen die das letzte Spiel wohl vor ihren eigenen Fernsehern als bei der letzten Leichenschau betrachten und dabei Wunden lecken wollten.

Ganz still und heimlich verabschiedet sich damit nicht nur das allgegenwärtige Schwarz-Rot-Gold aus dem Stadtbild, vielmehr auch ein ganz besonderer Aufreger, die “Vuvuzela” wird eingemottet. In vier Jahren dann, wenn in Brasilien der Anpfiff ertönt, sind die Fähnchen wieder hinter den Fensterscheiben eingeklemmt, mancher gönnt seinen Seitenspiegeln einen schwarz-rot-goldenen Überzieher oder verziert seine Motorhaube mit einer Deutschlandflagge.

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