Kirchenaustritt im Amtsgericht Darmstadt
Im Amtsgericht Darmstadt habe ich heute meinen Austritt aus der evangelischen Kirche erklärt.
Im historischen Gebäude B, an dem ich bislang unzählige Mal vorbeifuhr, in das ich aber bis dato keinen Blick geworfen hatte, verabreichte mir die Justiz ein schlechten Gewissen, gegen das ich aber immun bin: »Wovon solle denn der Pfaffe leben?« fragte mich die Dame, als ich kurz angebunden was von „Kirchenaustritt“ nuschelte. Kurz angebunden, weil ich überraschend von einer vor mir eintreffenden Dame vorgelassen wurde, die noch auf ihre Begleitung warten wollte.
Die Frau, die mir Vortritt gewährte, gehörte einer anderen Glaubensgemeinschaft an, als der die ich gerade verlassen wollte. Sie trug kein Kreuz um den Hals. Ihr Mann trug keine Kippa. Thilo Sarrazin, der in Darmstadt seinen xenophoben Werbefeldzug für die Millionenauflage seiner Pamphlete mit einem eugenischen Eklat begann, hätte in ihr ein „Kopftuchmädchen“ verkannt. Ich hingegen sehe und respektiere hier etwas, von dem ich gerade Abstand nehmen wollte: kirchlich manifestiertem Glauben, den es zu tolerieren anstatt zu diskriminieren gilt. Und nun mal Tacheles: Ich musste mit anhören und lesen, wie dröhnend ruhig die hiesige christliche Kirche – die sich nach Ansicht der letzten Bundespräsidenten mal mehr, mal weniger auf Augenhöhe mit anderen Glaubensgemeinschaften in Deutschland befindet, sich damit auseinandersetzt, das Mitmenschen mit und ohne Migrationshintergrund allein ihres Glaubens wegen von einem dahergelaufenen „Verwaltungsspezialist“ über Monate an den Pranger gestellt wird. Während der feine „Sozialdemokrat“ durch die Talkshowlandschaft unserer stolz „diskreminierungsfreien“ Republik tingelte, traf er nur in Einzelfällen auf den meiner Erinnerung nach immer selben Pfaffen, der sich den kruden Thesen offenbar als Einziger in seiner Funktion als Würdenträger der christlichen Kirche auch vor Millionenpublikum die Stirn zu bieten traute. Das war ein Armutszeugnis für eine Religionsgemeinschaft, die in der Debatte im Kontrast zum Islam durch
Meine klerikale Nachbarschaft ist von Zeit zu Zeit mit „Jesus rocks!“ beflaggt. Weil ich nicht bis in den dritten Stock hinauf reiche, begnüge ich mich damit deren identisch gestaltete Aufkleber von jedem zweite Straßenschild in der Nähe ohne Rückstände zu entfernen, sowie ich ihnen begegne. Die Möblierung des öffentlichen Raums mit Schildern und Schaltkästen ist mir ohnehin ein Dorn im Auge. Wenn dort anstatt langweiligem Grau Streetart aufgebracht wird, habe ich da ausdrücklich nichts dagegen, bin sogar ob meiner fehlenden künstlerischen Begabung froh das es genug Mitmenschen gibt die sich im Kontrast dazu freier Künste hingeben – können. Doch kommerziell produzierte Werbemittel zur Missionierung haben fernab der hierzulande zum Glück engen Grenzen der Grundstücke der Kirchen nichts verloren. Vielmehr sind solche harmlos scheinenden, „liebevoll“ gestalteten Aufkleber insbesondere in Einheit mit der oben beschriebenen Phänomenologie – das es nämlich angeblich keine Staatsreligion gibt, andere aber offener Diskriminierung bis hin zu Übergriffen ausgesetzt sind, nah dran an Propagandamaterial aus dem Parteienspektrum das sich dem Widerstand gegen den Neubau von Gotteshäusern anderer Glaubensrichtungen widmet. Nochmal: Wer so offensiv („Jesus rocks!“, „Jesus died for you!“, Kreuze in den Klassenzimmern, Kopftuchverbote …) für seine Glaubensgemeinschaft wirbt und zugleich hinnimmt das andere durch den Dreck gezogen werden, der hat seine Neutralität verwirkt und die viel zitierte „Nächstenliebe“ eingebüßt.
Den multiplem Nachwuchs der christlichen Nachbarn, und damit wäre ich wieder bei einer der kruden Thesen des Genossen Thilo Sarrazin, der ja behauptet das sich vor allem die von ihm vorzugsweise diskriminierte Bevölkerungsgruppe besonders stark reproduziere, korrigiert allein den demographischen Faktor im Block. Wenn ich mir ansehe, wie viel frisch getaufter Nachwuchs in der Nachbarschaft herum trollt, wage ich zu relativieren das Religionsgemeinschaften generell Familien sehr freundlich gegenüber eingestellt sind und der Hobbygenetiker™ mal sein Zahlenwerk auch gegen andere Religionsgemeinschaften abklopfen sollte. Wenn denn dann religiöse Menschen zur Familiengründung neigen würden würde sich wiederum erklären, warum der Papst gleichzeitig so ein überzeugter Verhütungsmittel- und Abtreibungsgegner und leidenschaftlich homophob sein kann wie manche islamisch dominierte Länder: Mit jedem ungeschützten Akt wächst die Gemeinde oder der „Klassenfeind“ dezimiert sich.
Eine fiese Unterstellung, aber in Zeiten in denen der Papst das Schicksal unzähliger missbrauchter Ministranten mit dem seiner schwarzen Schäfchen aufwiegt, um letztere dann nach bewiesener aber verjährter Tat nur strafzuversetzten, sind die Maßstäbe, mit denen ich an die Kirche herantrete eben härter. Es darf unterstellt werden das es nicht das Leben ist, an dem der Vatikan liegt, sondern vielmehr das Überleben einer möglichst großen Gläubigenschaar, auf das die Einnahmen sprudeln. Ich entziehe mich diesem System, dem ich als Protestant nur indirekt angehörte. Und ich mach es guten Gewissens.
Bis dahin musste ich benennen wo ich getauft wurde, wo ich wohnhaft sei, das und wann wir geheiratet haben. Das den Kirchenaustritt bescheinigende und begleitende Schriftstück gab es in fünffacher Ausfertigung zu unterschreiben, ein Merkblatt dazu und die Rechnung i.H.v. 25 Euro wird nachgeliefert. An der Glastür zeigt die Uhr 5 vor 12, als ich meinen beurkundeten Kirchenaustritt in Händen hielt. Höchste Zeit das Kirchensteuereinzugprivileg, das nur die christlichen Kirchen für sich beanspruchen können, die Strafzahlungen für atheistische Lebenspartner, die Kreuze in Klassenzimmern, Kirchengeläut, Beschneidungsdebatte, unfreiwillige Taufe, Vatileaks, §218, kein Aufstand bzgl. Stigmatisierung Islam/-ismus, Karin Wolff, von Gott berufener George W. Bushs Kreuzzug aka „Krieg gegen den Terror“ endlich hinter mir liegen.
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