Veteranen und Denunzianten
»Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an« zitiert Kurt B. aus Northeim wortgewaltig aus Goethes Faust, und vergleicht sodann stolze Veteranen fremder Länder mit den »gebrochenen, enttäuschten, getäuschten, beschimpften, gedemütigten«, die »ihr Leben einsetzten für ihre Familien und ihr Volk, für ihr Land, für die ihnen Nachfolgenden.«, um dann eine rhetorische Frage zu stellen: »Ob es unseren Bundeswehrsoldaten einmal genau so ergehen wird?« Damit schließt der unter „Lesermeinung“ veröffentlichte Leserbrief zum Veteranentag, einer Rubrik die sich die Seite mit dem Resort „Unterhaltung“ zu teilen hat. Und ich lese das, reiße das aus einer liegen gelassenen Tageszeitung heraus und nehme es mit nach Hause für diesen offenen Brief:
Lieber Kurt,
wenn die Bundeswehr im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte zu dem willfährigen Verein verkommen sollte, den die Wehrmacht abgegeben hat; dann, wenn in Deutschland nochmal eine Diktatur entstünde, und die Bundeswehr sich als williger Vollstrecker eines totalitären Regimes her gäbe, dann wäre es mir ganz recht wenn den Nachkommen der dann noch verbliebenen Nachkriegsnachkriegsnachkriegsdeutschen ihre Kriegstreiber »gebrochenen, enttäuschen, beschimpften, demütigten« und nicht zuletzt ausgrenzen würden. Doch die Erfahrung hat gezeigt, das insbesondere die Konservativen davon gar nichts wissen wollten, den ehedem nationalsozialistischen Funktionären eine neue Heimat boten, Deutschland schnell zu vergessen und zu verdrängen erlaubten, und das trotz der Abscheulichkeiten die mitunter die Wehrmacht im Namen des absoluten Gehorsam im Norden, Osten, Süden und Westen für Wahnsinn angerichtet hatte. Deutschland ist heute schon wieder viel zu sehr militärisch engagiert, als das man weiter von einer „Verteidigungsarmee“ sprechen dürfte. Unsere Soldaten lassen in Kundus Zivilisten bombadieren, sind Helfershelfer bei der Fahndung, Gefangennahme und auch unbeabsichtigter Liquidation sich natürlich ihrer Verhaftung vermeintlicher Terroristen, von denen man immer nur einen Namen und ein Wärmebild bekommt, bevor das jeweilige Terrorcamp in einem Feuerball in Flammen aufgeht. Dabei hätten wir vor der eigenen Haustür genug zu tun, als um den halben Erdball herum zu fliegen und dort bärtige Wahnsinnige in ihren Höhlen zu jagen – allerdings wurde die Bundeswehr ja in letzter Zeit gerade dafür auch ausgebildet: Dieser Minuten findet hier beispielsweise eine Demonstration gegen eine Diktatur inmitten von Europa statt, nämlich Weißrussland. In Zwickau sind rechtsextreme Terroristen unter Mithilfe von NPD-Kadern über ein Jahrzehnt dabei den sozialen „Frieden“ in Deutschland zum Konflikt eskalieren zu lassen, eine der direkt Beteiligten findet ihre warme Milch am Abend zu kalt, ihre 3 Minuten Eier zum Frühstück zu hart und verlautbart dann aus der Zelle ihr würde deshalb Unzumutbares zugemutet. All das und unsere Kanzlerin hat nichts besseres zu tun als »Multikulti ist gescheitert!« zu zetern1. In Norwegen ermordet ein irrer Rechtsextremer Jugendliche und legt einen halben Stadtteil in Trümmer, um sich dann feige hinter seinem psychologischen Profil zu verstecken. Du siehst, es gibt viel worauf wir als Deutsche auch heute nicht stolz sein können, wenn es um unsere Staatsidentität. Wir haben wahrlich andere Probleme, als die Einrichtung eines Veteranentags oder den Umgang mit unsere Soldaten.
In stiller Trauer um die Opfer, dein Udo
Wenig später, nachdem ich meine Gedanken endlich wieder von diesem Leserbrief gelöst hatte, stieg eine vermummte Dame in den Zug, redete im Vorbeigehen augenscheinlich mit sich selbst, um sich dann ihrem Telefon zuzuwenden. Sie war kaum leiser als die anderen Mitreisenden, die uns schon etwas länger mit ihren persönlich oder telefonisch geführten Privatgesprächen unterhielten. Doch besagte Dame führte kein Privatgespräch, eigentlich gingen wir davon aus das sie gar kein Gespräch führte, sondern sich nur artikulieren wollte. Eine verrückte doch harmlose Dame, deren Oberstübchen vermummt und ordentlich durcheinander gekommen schien. Und sie wiederholte ihren vermeintlich gedachten Anruf, bei dem sie eine wie auch immer gesuchte Person in diesem Zug „meldete“. Als wir dann alle ausstiegen, sie voran und wir hintendrein, staunten wir nicht schlecht, denn sie hatte tatsächlich telefoniert, und zwar mit der Polizei. Die stand dann auch fein säuberlich auf dem Bahnsteig und den Treppen verteilt bereit auf der Suche nach wem auch immer die Dame da gemeldet hatte. Doch von der Dame hatten sie natürlich keine Beschreibung. Und von der Person dürfte in diesem Privatbähnle ohnehin nie eine Spur zu finden gewesen sein. Und also entlud sich der Zug um seine Fahrgäste, inklusive einer Vermummten verrückten, durch die Reihen der Polizei mit ihren Hunden. Bis dann etwas bezeichnendes für unsere Jugend geschah: Jemand junges, geschätzt etwa 20 Jahre, löste sich aus der Horde, wandte sich verschwörerisch an einen der Beamten, gab wohl eine Beschreibung ab und ergänzte, das es sich um die Anruferin gehandelt habe. Und der Mob Grün-, Blau- und Schwarzuniformierter setzte sich in Bewegung in Richtung Ausgang, den die rot behütete Dame zielstrebig zu durchschreiten gedachte. Doch ein kleiner Wichtigtuer, der im dritten Reich und der ehemaligen DDR hervorragend in Staatsdienste gepasst hätte, indem er sich soeben als Denunziant betätigte und der verrückten aber harmlosen Frau einen Haufen Polizei inklusive Hunden auf den Hals hetzte. Wenn mich eines darin bekräftigte, den Leserbrief zu beantworten, dann diese Beobachtung und mein Erschrecken davor wie viel von den wenigen Skrupel anderer Epochen noch heute in jungen deutschen Erwachsenen steckt. Ekelerregend.
- zugegebenermaßen vor der Aufdeckung, aber rhetorische Brandstiftung bleibt das Zitat der Kanzlerin „Multikulti ist gescheitert„ [↩]