Von Eberstadt zum Hauptbahnhof in 90 Minuten, über Bensheim
Eingeklemmt im Niemandsland zwischen Eisenbahndamm und Autobahnschneise ruht das mit „Crazy Sexy und Spielothek Kings’s Play“ beschriftete Etablissement gegenüber einer verlassen wirkenden Papierfabrik. Von droben vom Bahnsteig 1 erschließt sich der Blick hinein, und verrät trotzdem nicht was hier im älteren Teil, einer abgedeckten, von der Natur zurückerobert Industriebrache einmal entstand. Das erfährt man wiederum nur vom Schild an der Haustür.
Wer den Anstieg hoch zum Bahnhof Darmstadt-Eberstadt in Angriff nimmt, wird aber nicht nur mit einem zweifelhaften Aus- und Einblick belohnt. Oben angekommen empfängt einen der Geist der Deutschen Bundesbahn in Form ihrer späten, zweckgebundenen Architektur, die dem eigentlich ganz hübsch zugeschnittenen Rest des Bahnhofes den trostlosen Anstrich gibt, den er bis heute nicht überwunden hat. Hoch oben über der Flügeltüre trohnt der „DB Keks“, jener einen dreistelligen Millionenbetrag schwere Logoentwurf als Ersatz für das Jahrzehnte bewährte Bundesbahn-Emblem. Man hat sich bei der Befestigung nicht einmal die Mühe gemacht, die ausgestanzten Ecken um die runden Ecken abzuziehen. Vielleicht glaubte man bei Aufbringungen nicht, das dieser Keks hier noch gute zwanzig Jahre und vielleicht noch länger haften würde.
Drinnen sieht es derweil wie gehabt aus: Service wird hier immer noch groß geschrieben, handelt sich ja auch um ein Substantiv. Und wie so überall inzwischen: anstatt menschlicher wartet hier maschinelle Bedienung auf den abgekämften Bahnkunden.
Gleich so verhält es sich mit der Gastronomie, im weiteren Sinne: Am Automaten gibt es Getränke – den „fruchtigen Durstlöscher“ in drei Varianten aus dem Softpack, Kaugummi, Nüsse und mehr als eine Hand voll Schokoladenriegel plus obligatorischer Hselnuss-Schnitten und Reisschokoladenwaffeln. Wer darauf keine Lust oder Zeit zu überbrücken hat, oder vielleicht sogar gezielt deshalb hierher kommt, kommt in den Genuß von Club-Mate, dem „Koffeinhaltigen Erfrischungsgetränkt auf Mate-Basis“, links des Bahnhofes unter der Brücke hindurch beim Maruhn an der Stadtgrenze von Darmstadt hin nach Pfungstadt. In der Gegenrichtigung erwartet den hungrigen Reisenden eine klassische Imbissbude.
Besagter Schalter ist von innen verhangen. Den Schriftzug „Geschlossen“ tragen die Durchreiche und das kleine ausgesparte Oval mit Türchen im Fenster nunmehr dauerhaft. Vielleicht war der verkokelte Schalter rechts des einen Fahrkartenautomaten einmal Lichtgeber, in einem Bahnhof allerdings eher unwahrscheinlich. Vermutlich verbirgt sich hinter der Verbarikadierung, vor die der RMV-Automat platziert wurde, auch der ehemalige Gepäckschalter, und mit dem Knopf rief man das Personal herbei, das mit dem Nutzen für den Reisenden verglichen sehr weitläufig geraten ist. Was auch nichts heißen mag, denn drei der vier wohl einmal als Fenster dienenden Flächen sind längst ebenso verbarikadiert wie der ehemalige Gepäckschalter.
Insgesamt drei Bahnsteige zählt Darmstadt-Eberstadt, Gleis 3 nimmt haltende Regionalbahnen auf, an der bevorzugt Intercity vorbeibrettern. Waschbetonlaternen sorgen nicht gerade für Behaglichkeit. Auf gelben Schildern wird gewarnt, es gäbe „schnelle Vorbeifahrten“. Doch selbst die darüber angebrachten Piktorgramm bereiten den Wartenden nicht darauf vor was ihn erwartet: Nicht etwa vereinzelte Fern- und von Zeit zu Zeit Regionalzüge, sondern permanent ungebremst durch den Bahnhof rasende InterCity, Güterzüge und dergleichen. Mit weit über einhundert Stundenkilometern rasen hunderte Tonnen an Wartenden vorbei, die aufgrund des niedrigen Bahnsteigs „mittendrin statt nur dabei sind“. Das muss es gewesen sein, was die Bahn mit ihrer viralen Kampagne zur Sicherheit ihrer Kundschaft gemeint hat:
Wer drin sitzt im Intercity, kriegt von Darmstadt-Eberstadt höchstens mal den wartenden Regionalverkehr mit. Gelegenheit den vorbei fliegenden Halt überhaupt wahrzunehmen gibt es aufgrund der unverminderten Geschwindigkeit kaum. Und auch der schwere Güterverkehr passiert Gleis 1 und 2 ungebremst. Die S-Bahn endet im Darmstädter Hauptbahnhof, und zwischen all den Güter- und Fernverkehrszügen wäre auch kein Zeitfenster, indem diese Schnellbahn getaufte Zuggattung hierher kommen könnte. Fünfminütlich – geschätzt freilich – durchbrechen vorbeieilende Züge den Dornröschenschlaf, in den der Bahnhof Darmstadt Eberstadt gefallen ist, seit auch noch der im Gleisfeld des Bahnhof liegend Abzweig gen Pfungstadt stillgelegt wurde.
Doch das wird sich ändern, denn die in Südhessen umtriebige Privatbahn VIAS hat sich entschlossen die Strecke reaktivieren zu lassen. Seit einiger Zeit ist „Die Bahn“ DB wieder zurück auf dem Abzweig nach Pfungstadt, allerdings weitgehend Schienen-ungebunden, allenfalls mit Schienen-gängigem Baugerät. Dem Anschein nach ist für die Wiederinbetriebnahme nicht einmal schweres Gerät notwendig, wie man es sonst bei Streckenbauarbeiten wahrnimmt. Oder der ohnehin stillgelegte Abschnitt zwischen Eberstadt und Pfungstadt macht es nicht erforderlich.
Der Bahnhof in Pfungstadt, oder die Bushaltestelle Bahnhof die davon neben der Baustelle übrig geblieben ist, glich lang einer Schotterwüste. Neue Schwellen lagern neben seit Jahren vermodernden Holzschwellen, alte Gleise sind abgetragen und die neuen Schienen bereits in der Nähe zurecht gelegt. Alles macht den Anschein, es sei perfekt geplant und ginge ganz schnell, wenn denn mal begonnen würde. Doch lang hantierte „Die Bahn“ noch im Wald entlang der Böschung und an Brückenbauwerken. Die gespenstische Ruhe einer stillgelegten Strecke ist die Ruhe vor dem Sturm der Bauarbeiter gewichen. Im Ergebnis wird der Bahnhof so aussehen, wie alle Neubauprojekte der Bahn im städtischen Raum, klinisch rein, zumindest bis zur Schlüsselübergabe, aber auch danach noch neudeutsch „clean“, Identitätslos, aber immerhin durch Schienenverkehr an das Rhein-Main-Gebiet angebunden. Das ist zweifellos von Vorteil für Pfungstadts Einwohner.
Doch mitunter auch auf anderen Relationen: Wer um 10 Uhr von Da-E nach Da-Hbf fahren will, wartet 41 Minuten, fährt mit der Regionalbahn 18 Minuten nach Bensheim, um nach 11 minütigem Umsteigen am selben Bahnsteig mit dem Intercity auf der gleichen Strecke am eben noch zum Erklimmen der Regionalbahn benutzten Bahnsteig vorbei lediglich 12 Minuten zum Darmstädter Hauptbahnhof zu fahren. Sagt zumindest der Automat im Bahnhof, zu Anfang erwähnter maschineller Berater. Wer hier pünktlich aber mit Gepäck zum Bahnsteig zum Bahnsteig kommt, ist bei einem plötzlich Gleiswechsel angeschmiert: Nicht nur einmal ist es mir passiert, das der Lokführer nur einen Blick riskieren müsste, um sicherzustellen, das alle Fahrgäste an Bord sind. Oder er tat es sogar, und fuhr trotzdem los. All das dürfte mit dem neuen Verkehrsangebot auf der Strecke Pfungstadt – Darmstadt-Eberstadt – Darmstadt-Hauptbahnhof etwas besser werden.
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