Frischer Wind vertreibt keinen Leichengeruch
Am Bahnsteig weht ein frischer Wind, davon zeugt die reichhaltige Beschilderung während der Bauarbeiten: Die Züge von Gleis 2 und 3 führen während der Bauarbeiten vom nicht unüberdachten Abschnitt des Bahnsteiges, verkündet an dessen Anfang ein zwar auf ordinäres Papier gedrucktes, doch vom Corporate Design eingerahmtes Schild. Das Gleis 1 den letzten Bauarbeiten vor Jahrzehten zum Opfer fiel, erschließt sich vielleicht noch bei oberflächlicher Betrachtung, wenige Sekunden Recherche und der Fund eines historischen Gleisplanes, datiert auf die Jahre 1904/05, widerlegen diese Theorie: Gleis 1 war schlicht ein dicht am Bahnhofsgebäude vorbei geführtes Zweirichtungsgleis ohne besonders ausgezeichneten Bahnsteig, jedenfalls zum Zeitpunkt der Drucklegung und auch auf den monochromen Fotos als Zeitzeugen besserer Zeiten der Bahn im Allgemeinen und diesen Bahnhofs im Speziellen. Den Bahnhof nämlich touchierte nicht zuletzt ein Zug aus dem fernen Paris, D 257 aus Paris Est, über Oberursel nach Grävenwiesbach als N 2530 weiter geführt konnte man seine Croissants über drei Jahre hinweg aus Paris ohne Umstieg in den Taunus mitnehmen. Dorthin wo früher die Güterabfertig nebst Ladestraße gewesen sein mag und zwischenzeitlich Parkplätze geschafffen wurden, zieht es einen Investor, an den die Bahn den Landstrich veräußert hat, der früher dem Güterumschlag diente. Das alte Bahnhofsgebäude wird erhalten bleiben, auch das bezaubernde Schrankenwärterhäuschen dürfte sicher sein. Das ganze Drumherum aber ist Geschichte, längere Zeit wohl schon das „Telegraphenamt für den öffentlichen Verkehr“, eine 33 t Gleiswaage sowie ein 1,2 t Kran. Der neue Haltepunkt wird routiniert modernisiert, möglicherweise werden sogar die Gleise umgewidmet, sodass niemand auf die Idee kommt den dritten Bahnsteig zu suchen. Längst zurück gebaut ist der Gleisanschluss, über den früher fabrikneue Stadtbahnen angeliefert wurden. Das sich Bahn und Investor in für beide Seiten lukrativer Weise überein gekommen sein dürften, ist sicher. Das der neue Halt den „hohen Ansprüchen an ein modernes Verkehrsmittel“ gerechet wird, dürfte auch selbstverständlich sein. So kommt sie daher, die neue, privatisierte Bahn. Im Bahnhof selbst hängt aber noch immer Leichengeruch in der Luft, hier müffelt es nach Bundesbahn. Die aus der Zeit vor dem Millionen-schweren DB-Keks stammende Uhren sind damit nicht gemeint, sie sind es immerhin die hier seit seinerzeit die Zeit ansagen und deren Zeit jetzt viel zu früh gekommen zu sein scheint. Denn mit der Renovierung ist das Bundesbahnlogo hinter echtem Glas nicht mehr zeitgemäß. Weiter hinten, dort wo die bei dieser Witterung dringend notwendige Überdachung endet, hängt ein eher für die Ewigkeit gedachtes Schild: »Verengter Bahnsteigbereich. Hier kein Aufenthalt! Durchfahrt für Rollstuhlfahrer nicht geeignet.« Das hierher ein Rollstuhlfahrer irrt, ist unwahrscheinlich: Der angehenden Fahrgast hat bis hier hin seit jeher – oder immerhin seitdem hier ein Überschreiten der Gleise wegen der hohen Frequenz der Züge nicht mehr vertretbar war – ein paar Dutzend Stufen hinter sich gebracht. Demnächst, wenn die Bauarbeiten vorbei sind, wird diese Hürde für niemand mehr zu bewältigen sein. Das es bei dem Umbau vor einigen Jahrzehnten bereits intelligenter gewesen wäre, den ebenerdigen Zugang auch vom angrenzenden Bahnübergang zu gewährleisten, daran wird sich niemand mehr erinnern, wenn denn erst der schicke neue Zugang zugänglich, der Fahrstuhl verbaut und damit der Zugänglichkeit für Behinderte Genüge getan wurde. Dieser von der Bahn seit Privatisierung weder angemessen gepflegter noch renovierter Bahnhof, ein einzigartiges Schmuckstück übrigens, hat seine letzte Aufwertung erlebt, als hier in den 1970er Jahren die erste S-Bahn abfuhr. Zeugnis dessen ist die zeitgenössisches Vertäfelung des Zuganges vom Bahnhofsgebäude zum Bahnsteig, mit orangenen Kacheln. Dorthin wo die den Ankomenden führen ist schon längst keine Bahnhofsgastronomie mehr untergebracht, der letzte Bahnbedienstete hat den Schalter aber trotzdem so lang noch nicht verlassen. Ihm standen die Taxifahrer zur Seite, die hier ihre Zentrale hatten, und von Zeit zu Zeit war dort wo früher noch ein echter Wartesaal nebst Bahnhofsgaststätte die Reise zur Unternehmung machten nur noch ein Kiosk untergebracht, wo man ganz zeitgenössisch „Coffee to go™“ kaufen und dann auf dem Weg hinab und hinau in das Gewölbe und auf den Bahnsteig wieder verschütten kann.- Den letzten Rest eines echten Bahnhofes, den man früher und heute viel einfacher hätte integrieren können wird die Bahn jetzt aufgeben, denn der Zugang wird überflüssig, das Gebäude hat keine betrieblichen Wert und die Immobilie ist aufgrund ihrer Historie bares Geld wert, noch zumal in einer Gemeinde mit ordentlichem Haushalt platziert. Den Geist der Bahnreise als Abenteuer hat man diesem Bahnhof endgültig ausgetrieben, damit vollendet die Bahn was sie beim rollenden Material begonnen hatte – und mit der legendären Baureihe 420 noch scheitern sollte. Das Flair geht ihr verloren. Und die Dienstleistung, die sie verkaufen will, und die sie von der reinen Beförderung abhebt, hat sie noch nicht gefunden. Die Bundesbahn ist tot, ihr Leichengeruch aber haftet der Bahn noch an. In Zeiten, in denen man unablässig für eine Vollprivatisierung kämpft ist das zu wenig, um eine Enteignung des Steuerzahlers durch Totalausverkauf einzuleiten. Zumal auch jene Dienstleistung, die in den meisten Fällen über die reine Daseinsvorsorge nicht hinaus reicht, kaum noch aus den Schlagezeilen wegzudenken ist.
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