Marcel Reich-Ranicki und primitive Menschen
Peter Löwenstein vom Regioblog fragt sich und seine Leser unter bewust provokant formuliertem Titel »MRR ist eben aus der Bahn geflogen«, ob Marcel Reich-Ranickis Einschätzung in der Sendung »Aus gegebenem Anlass« richtig war:
Nun, zunächst sei festgestellt, das Aus gegebenem Anlass sich in erster Linie an jene Zuschauer richtete, zu denen Marcel Reich-Ranicki und Thomas Gottschalk sich selbst zählten, die eben nicht mehr oder sehr selektiv den Fernseher einschalten, so jedenfalls interpretierte ich die gediegene Kullisse. Wären nicht Feuilletons und Blogosphäre, Mediathek und Videoportale, hätten von der verschmähten Auszeichnung wie von der anschliessenden Diskussion um Qualität im deutschen Fernsehen vermutlich deutlich weniger Notiz genommen. Sei es, weil der Fernseher längst nur noch an einen DVD-Player angeschlossen oder gar ganz abgeschafft ist, oder aber weil man aus Resignation längst private und manches öffentlich-rechtliche Programm längst aus der Senderliste verbannt hat. Sowohl vor als auch hinter der Mattscheibe nahmen also Menschen Platz, denen im Laufe der Zeit das Alter höhere Ansprüche aneignete oder denen man geliebte Sendungen mit der Begründung genommen hatte, diese erfüllten nicht die Quote. Gebührenzahler zumeist, die diese Gebühren selbst nicht schmerzt, die aber schmerzt was daraus gemacht wird.
Qualitätsbewuste Zuschauer mit Steuerzahlern zu vergleichen, fällt wegen des jüngst veröffentlichten Schwarzbuches des Bundes der Steuerzahler leicht. Hier erhebt sich ein gemeinnütziger Verein mit erhobenem Zeigefinger stellvertretend für Millionen Steuerzahler, denen Büschel Haare ergrauen oder gleich ausfallen angesichts ausgiebig dokumentierter Verschwendung öffentlicher Mittel. Analog zur Quote entzieht man dem politischen Verantwortlichen bei nächster Gelegenheit seine Stimme.
Gewisse Parallelen ergeben sich auch zu Unterzeichnern von Bürgerbegehren, unbefangen im Gegensatz zu Mitgliedern von Bürgerinitiativen, aber mündig und von direkterer Demokratie überzeugt, denen eine Wählerstimme alle fünf Jahre also nicht ausreicht oder aber bestimmte Vorhaben besonders am Herzen liegen.
Kritikers Brandrede verleiht Genugtuung und Gewissheit, mit der eigenen subjektiven Einschätzung gar nicht mal so falsch zu liegen und vor allem nicht allein zu sein.
Allerdings, um zum Thema zurück zu kehren, wird es weder »Aus gegebenem Anlass« zu ähnlichen Quoten wie »Wetten, dass …?« gebracht haben, noch hat punktuelle Kritik, wie die des Bundes der Steuerzahler, Wirkung, noch werden Projekte widerspruchslos abgewickelt, nur weil Missstände aufgedeckt oder Unrecht angeprangert wird.
Nein, erst wenn sich jene angeprangerten »primitiven Menschen« vor der Mattscheibe nicht mehr mit zunehmenden Bullshit zufrieden geben, erst wenn aus politischem Unvermögen statt Nichtwähler massenhaft Bürgerbeteiligung wird, erst wenn Mittelmäßigkeit nicht mehr in gleich welcher Weise belohnt wird, wird sich etwas ändern. Fündig wird man auf der Suche nach »primitiven Menschen« nicht vor der Mattscheibe, sondern vor allem dahinter, und in politischen Ämtern, und in der freien Wirtschaft.
Zu guter Letzt noch eine persönliche DVD-Empfehlung zum Thema: »FREE RAINER – dein fernseher lügt« fehlt in keiner gut sortierten Videothek. Der Film führt Quote und gegenwärtige Fernsehlandschaft herrlich vor, regt zum Nachdenken und wird kaum im »Free TV« zu sehen sein.