Moralkeule für Jörg Tauss
Vor dem inneren Auge echauffiert sich die Krone der politische Kaste auf dem Berliner Politcamp über die Redebeiträge eines ihrer ehemaligen Kollegen. »Was erlauben Strunz?« rückt einem unweigerlich vor Augen, wenn man sich die ansonsten so abgeklärt wirkenden Politiker aller, aber vor allem derer des vermeintlich linken Lagers hört. Der Vorwurf: Jörg Tauss belästige die Rezipienten auf einer Vielzahl von der Veranstaltungen und öffentlichen Foren mit den immer selben Argumente, beispielsweise gegen den derzeit verhandelten Mediendienste-Staatsvertrag, kurz MDStV. Das Tauss damit erstens nur so wie seine ehemaligen Kollegen verfährt1, in der Regel rein inhaltlich argumentiert, bisweilen sich merklich selbstherrlich bis -zufrieden von seinen ehemaligen Kollegen abgrenzend, reizt die natürlich. Doch das sollte man als Berufspolitiker souverän parieren können. Das Problem nur ist: Der Sachverstand und die Argumente geben dem Provokateur Recht. Natürlich war weder Zensursula noch ist der MDStV dem Zweck, nämlich der Eindämmung der Verbreitung von Kinderpornographie einerseits und dem Jugendschutz andererseits, angemessen und wirksam.
Tauss war lange Zeit kompetentester Vertreter der SPD in Sachen Netzpolitik, hinter ihm lange Zeit nichts. Die sachverständigen Gremien der Partei wurden seinerzeit ignoriert: Der Virtuelle Ortsverein (VOV) ist das seit jeher gewohnt, und verrichtet seine Arbeit unbeirrt weiter. Der Partei-übergreifende Onlinebeirat distanzierte sich von dem Gesetzvorhaben der eigenen Partei, und als Internetsperren Gesetz wurden löste er sich auf. Nach der Verabschiedung von Zensursula stand die SPD also völlig von Kompetenz befreit, nur mit ihrem Verhandlungsführer Dörrmann der Netzgemeinde gegenüber mit heruntergelassenen Hosen da.
Im Anschluss verlor die SPD die Bundestagswahl, selbst und vor allem bei den Erstwählern. Man hatte es sich mit denen, mit uns verscherzt, und auch wenn in verschiedenen Gremien2 seither versucht Wiedergutmachung zu betreiben, indem die damaligen Positionen aus der Opposition heraus neu eingeschätzt werden, ist das einer ganzen Generation Menschen in eine ehedem als „Internetpartei“ gelobte Organisation nachhaltig geschädigt worden.
Der moralische und politische Sieger des ganzen Theater war die C*U. Ganz ohne Not entlockten Reporter dem ehemaligen Innenniminister das Bekenntnis, das man mit dem Gesetzesvorhaben von einem gewissen Punkt einzig die SPD vor sich her trieb. Fast ohne Ausnahme stimmte die damalige SPD-Fraktion für das Gesetz zur Internetzensur, und zementierte damit ihre eigene Reduktion um ein Drittel, das in und von der Öffentlichkeit längst als der unwirksame Papiertiger entlarvt worden war, als der er von Anfang an geplant wurde. Der C*U lag niemals am Kindeswohl, wie sie das Gebetsmühlenartig wiederholte, ebenso wenig der SPD. Mit dem Gesetz sorgte die CDU, namentlich Ursula „Zensursula“ von der Leyen für ein einseitig wirksames Druckmittel, das seine Wirkung über ein halbes Jahr hinweg entfalten konnte. In der SPD und den anderen etablierten Parteien fand sich kaum jemand, der dem Wahnsinn ein Ende bereiten wollte.
Insofern ist es auch anmaßend und überheblich, einem der wenigen Vertreter der Netzöffentlichkeit, nämlich Jörg Tauss, der trotz aller gegen ihn erhobenenen Anklagepunkte bis zum Beweis des Gegenteil nach hiesigem Rech als unschuldig zu gelten hat, mit Moral zu kommen. Dies überkommene System aus zersplitterten Parteien, an Partikularinteressen orientierten Politiikern, Einflußnahme durch Dritte und völlig verkommenen Massenmedien hat „Zensursula“ erst möglich gemacht, und schafft nicht zuletzt gerade die Voraussetzungen für den nächsten Coup: Der Mediendienste-Staatsvertrag scheint, von der CDU als „Kinder- und Jugendschutzpartei“ angestossen, von den SPD regierten Ländern begrüßtem, von den Grünen und FDP in den Ländern mitgetragenen wird da gerade die nächste Evolutionsstufe der Internetzensur erklommen. Dies Mal unter dem Deckmantel des Jugendschutzes anstatt zum Kindeswohl.
Das diese Maßnahmen keinen einzigen Jugendlichen davon abhalten werden, sich Zugang zu Jugend gefährddenden Inhalten zu verschaffen, sofern sie es denn wollen, ist allen Beteiligten klar. Und auch wenn Änderungen am ursprünglichen Entwurf vorgenommen werden, ist dem grundsätzlichen Ungeist von „Öffnungszeiten im Internet“ Genüge getan. Dieser Wahnsinn hat Methode, und es ist eine derer sich die CDU nur allzugern bedient. Das die SPD jetzt wieder mitzieht, macht die Arbeit des Gesprächskreis Netzpolitik, in dem der vor allem theoretischer Diskurs gefplegt werden soll, überflüssig, denn um Technik an sich geht es bei dem Vorhaben nicht. Die ist auf den ersten Blick hin untauglich. Die CDU exerziert einfach nur was im letzten Wahljahr schon so gut funktioniert hat: Die SPD mit der Moralkeule vor sich her zu treiben.
Das weitgehend Unbeteiligte von derartigem Treiben wenig entzückt sind, zeigt das ehrliche Statement des Journalisten Thomas Knüwer, mit dem er vom diesjährigen Politcamp kam.
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