Verbindlichkeit in direkter Demokratie

Ein offener Brief an Sigmar Gabriel, Wirtschafts- und Energieminister und Parteivorsitzendem der SPD.

In Zeiten immer mehr direkter Demokratie stellt sich natürlich auch die Frage der Verbindlichkeit: Klar sind Bürgerbegehren und -entscheide juristisch hinreichend definiert. Und beim „SPD Mitgliedervotum“ vergangenes Jahr ging es schließlich nur um ein Vertragswerk das in der politischen Arbeit analog zu einer Loseblattsammlung erst mit Leben gefüllt wird. Dennoch wird am Beispiel schwarz-grüner, grün-schwarzer Bürgerbeteiligung und dem Umgang mit „unverhandelbaren Kernforderungen“1 beim SPD-Mitgliedervotum wieder etwas deutlicher das die Etablierten2 den Sinn der Gründung der Piraten noch nicht verinnerlicht haben und weiterhin darauf vertrauen das die Wählerinnen und Wähler, von den Medien entsprechend gebrieft für deren Rausschmiss aus den Parlament und deren vorzeitiges Ende sorgen werden.

Gerade wenn es, wie in Frankfurt bei deren schwarz-grüner „Bürgerbeteiligung“ gerade erst geschehen nur darum geht einen Preis3 an ein Produkt4 zu kleben, nur um dann die Pflege selbst in der Hand zu behalten und bei Bedarf moderierend eingereifen kann, obwohl längst eine genau so leistungsfähige und kostenlose, nur eben nicht die Zügel in Händen der jeweils Regierenden legende Lösung besteht, die auch schon seit Jahren rege genutzt wird, fragt man sich doch ob die Beteiligung an solchen Prozessen überhaupt einen Sinn hat. Dann will man scheinbar wenigstens den Spaß an der Sache nicht verlieren und fordert gleich etwas auf das die jeweils Beauftragten keinen Einfluss haben, das aber immerhin für etwas Reibungswärme bei der Abstimmung sorgen könnte, beispielsweise durch die Forderung nach der Eröffnung von Coffeeshops nach dem Vorbild von Amsterdam. Wenn damit auch so viel Fahrradverkehr einher ginge hätte ich absolut nichts dagegen, aber der Stadt Darmstadt ihr Handlungsspielraum verläuft dahingehend in den engen Grenzen des Betäubungsmittelgesetzes.

Doch es gibt auch Anlass zu noch kritischerer Betrachtung, insbesondere beim schon einleitend erwähnten „SPD Mitgliedervotum“, dessen „Kernforderungen“ aus dem Regierungsprogramm stammten, über das 70% Wählerinnen und Wähler am 22. September 2013 zu 25% abgestimmt hatten, das die Entscheidung zunächst für den Beschluss beim Parteikonvent war und so größtenteils und trotz von Sigmar Gabriel so in Aussicht gestellter, nicht verhandelbaren Fundaments sozialdemokratischer Forderungen peut a peut abgeschmolzen wird. War es zunächst nur der Mindestlohn, der durch immer mehr Ausnahmen ausgehöhlt wurde, und stand bis letzte Woche die Rente mit 63 auf der Abschussliste der Union und wurde dementsprechend an Andrea Nahles zur weiteren Veredelung abgegeben, scheint jetzt der mindestens dritte Punkt zur Disposition, nämlich die Finanztransaktionssteuer. Der Papiertiger, der nur auf nicht staatliche Papier zur Anwendung kommen sollte und bei allen anderen mit gerade einmal 0,01-0,1% zu Buche schlagen soll, findet immer weniger Unterstützer in Europa. Und ohne oder mit den falschen5 europäische Partner, also als Alleingang, wäre eine solche Steuer schwer vorstellbar, verlegen sich die Spekulanten dann doch einfach auf einen Markt, wo die Besteuerung nicht anfällt. Nach gerade einmal einhundert Tagen Regierungsbeteiligung sind drei der zehn Punkte bereits zu Merkels Marginalien verkommen, die zuvor werbend für ein Ja zum Koalitionsvertrag standen.

Wenn Verbindlichkeit in direkter Demokratie indirekte Demokratie beinhaltet, ist sie nur so viel Wert wie indirekte Demokratie. Mit anderen Worten: Wenn die konkrete Umsetzung der von der Bürgerschaft oder den Mitgliedern getroffenen Grundsatzentscheidung immer noch davon abhängig ist wer, was, wie umzusetzen bereit ist, anstatt die Entscheidung hinzunehmen, wenn also von den Entscheidern immer noch erwartet werden muss das sie ihre persönlichen Interessen verfolgen anstatt den Vollzug der Interessen Aller6 zu lenken, dann kann man sich diese Eingaben auch sparen. Wenn der Mindestlohn zwar Millionen zugestanden wird, aber auch Millionen unter die Ausnahmeregelungen fallen; wenn die Rente mit 63 durch immer mehr Einschränkungen de facto zu keiner Rente mit 63 führt; wenn die Finanztransaktionsteuer nun doch nicht kommt und Europa als Ausrede vorgeschoben wird – ausgerechnet in einem Europawahljahr, dann komme ich mir aber ganz schön verarscht vor, lieber Sigmar.

  1. O-Ton des amtierenden Parteivorsitzenden und Bundesminister für Wirtschaft und Energie Sigmar Gabriel zum Beschluss des Mitgliederkonvent []
  2. früher: das Establishment, sich hierzu damals nicht zählend: Bündnis 90/Die Grünen []
  3. in dem Fall 35k Euro per anno []
  4. „von politik.de“ []
  5. falsche = ohne Großbritannien []
  6. also aller Bürgerinnen und Bürger respektive Mitglieder und ohne []
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