Debattenkultur rund um das Mitgliedervotum

Ohrenzeugenbericht vom SPD Regionalkonferenz in Hofheim am Taunus

Ich war bei der Regionalkonferenz der SPD in Hofheim am Taunus zugegen, als 36 Stunden nach Veröffentlichung des Koalitionsvertrag knapp 1000 Genossinnen und Genossen über das Vertragswerk diskutierten. Und auch ich hatte schlimmeres erwartet, nämlich eine unsaubere und unsachliche Diskussion. Allenfalls. Mit einigen unschönen Begebenheiten war es dann allerdings getan. Das Gro der Rednerinnen und Redner war dem Koalitionsvertrag gegenüber wohlwollen eingestellt, wobei man Podium nicht mit Publikum gleichsetzen darf; wobei ich behaupten aber nicht belegen kann das ein ausgewogenes Verhältnis aus Gegnern und Befürwortern bei den Genossinnen und Genossen um mich herum herrschte.

Nachdem Bundesminister in spe TSG den Vertrag in überaus flammender Rede verteidigt hatte, die nur den Schluss zulassen kann: Er geht nach Berlin um danach siegreich nach Wiesbaden zu ziehen. Und nachdem der Parteivorsitzende sein ganzes rhetorisches Gewicht in den Ring geworfen hatte, waren die Genossinnen und Genossen sichtlich beeindruckt. Allerdings sind wir von der Parteibasis zwar auch von der schieren physischen und rednerischen Präsenz zu beeindrucken, wie aber mehrmals auch von Sigmar betont wurde diskutierten wir hier über Inhalte also Argumente. Und wenn die mit fiepsiger Stimme vorgetragen würden, würden die die genau so gelten wie mit der Wortgewalt des Sigmar Gabriel.

Ein Ausflug in die Massenmedien

„Das WIR entscheidet“ jetzt über den Koalitionsvertrag, und zu dem Zweck war der amtierende Vorsitzende der SPD nach Hofheim am Taunus gekommen, um mit fast 1000 südhessischen zu diskutieren. Und dann kam das ZDF, das Sigmar zweimal hinhielt, um bei der Debatte zu bleiben, woraufhin Frau Slomka in das denkwürdige Interview mit ihm einstieg.

Im CDF heute Journal: Sigmar-Gabriel und Marietta Slomka

Nachdem er den Ausflug in die Massenmedien über sich ergehen hatte lassen, wandte sich Sigmar den Genossen zu und erklärte das eben geschehene. Wir konnten zu dem Zeitpunkt in Unkenntnis des ganzen Interview eher wenig damit anfangen, dennoch hatte er es geschafft erst der interessierten Öffentlichkeit in persona von Frau Slomka seine Sicht der Dinge zu entgegen zu schmettern, und dann noch das Interview zu erklären, schließend mit den Worten »In Sachen Demokratie braucht die SPD keine Belehrungen. Seit 150 Jahren.« Das gefiel uns versammelten Genossen. Und später verstanden wir adnn auch was sich zugetragen hatte.

Medienwirksam schrieb Horst Seehofer tags darauf dem ZDF-Intendanten einen offenen Brief, indem er sich über das gestrige Interview von Marietta Slomka mit Sigmar Gabriel beschwert, und seine Rechtsauffassung mitteilt. BILT zitiert voller Genuss und schöpft dabei aus O-Tönen, die der noch amtierende Ministerpräsident und potentielle Bundesminister auch an Sigmar Gabriel adressiert verfasst hat, der in seinen Augen „wie ein Schulbub vorgeführt“ wurde. In Anbetracht des Koalitionsvertrag und der für den Bayern mageren Ausbeute darin darf man dem derart gedemütigten CSU-Vorsitzenden den mehr als Seitenhieb denn als zur Seite stehen zu verstehenden Schriftwechsel als erstes Geplänkel verstehen, und fühlt sich an den Anfang der letzten schwarz-gelben Koalition erinnert, die mit Hieben und Stichen aller gegen alle Koalitionspartner begann und dann sang und klang los vier Jahre dahin vegetierte, um schließlich die FDP aus dem Parlament zu räumen.

Das der Seehofer jetzt an das Mainzer ZDF ist insofern irritierend, als das er den Adressat ja selbst installiert hat, denn den Brief nimmt das ZDF in Persona des ZDF-Intendanten entgegen, und sowohl Seehofer als auch sein Initmus Stoiber sitzen dort neben anderen Christsozialen und -demokraten sattsam im Verwaltungsrat vertreten. Es hätte also eines Anruf genügt, und der Verwaltungsrat hätte zu einer Sondersitzung einberufen werden und Frau Slomka in Urlaub schicken können. Stattdessen findet wieder Schattenboxen statt, und der sichtlich angegriffene Sigmar Gabriel, der seine Briefe nicht aus dem Leder der Staatskanzlei oder dem Ruhesitz in Brüssel verschicken kann, sondern sich seit über einem Jahr im dauernden Wahlkampf befindet, wird auch noch über Bande vom möglichen Koalitionspartner attackiert. Zu dem Zeitpunkt hatten die meisten Genossen im Saal keine Kenntnis von dem Interview das so hohe Wellen schlagen würde. Das Sigmar so reagiert hat wie er reagiert hat dürfte ihm und uns uns ein paar Ja-Stimmen gebracht haben. Journalisten-Bashing an sich ist aber nie eine gute Idee, aber auch der Aufruf die Berichte der anwesenden Pressevertreter am nächsten Tag mit den eigenen Erfahrungen zu vergleichen und sich dann zu fragen ob man auf der selben Veranstaltung gewesen sein ist in der Manöverkritik der Genossen sicher gut angekommen. Insofern war die Veranstaltung tatsächlich so nach innen gerichtet wie versprochen.

Tränendrüsentrieb

Es wird und wurde insgesamt schwer auf Tränendrüsen gedrückt und persönlich Betroffene als Leumund herangezogen. Es wurde die Zukunft der SPD mindestens der nächsten 20 bis 30 Jahre zur Abstimmung gestellt. Und vom Parteitag in Erinnerung gerufen: „Auf uns schaut Europa!“ Wer will denn dagegen argumentieren!? So einige taten das, leider kamen von den anwesenden 900 nur 24 Genossinnen und Genossen zu Wort, die nicht sonst auch Gelegenheit haben ihre Meinung zu verbreiten. Andererseits hat sich Sigmar auch die Zeit genommen und noch eine Stunde länger die Stirn geboten, wenngleich nach seiner Unterbrechung für das nunmehr fast legendäre Slomka-Interview mehr als die hälfte der Genossinnen und Genossen aufgebrochen waren, weil sie das Fortschreiten des Genossen Gabriel als Ende der Sitzung und Signal zum Klatschen gesehen hatten. Nun sind auch die ersten Augenzeugenberichte der Veranstaltung am Start, und ich muss mich schon ein klein wenig wundern.

Man mag argumentieren, das die von der Parteispitze geführte Alles-oder-Nichts-Diskussionskultur nicht in Ordnung ist1, aber das würde die Intelligenz der Parteibasis geringschätzen. Man könnte sagen das der Verschnitt von Reden beispielsweise vom Parteitag oder aus dem Wahlkampf (Sigmar Gabriel bemühte Gregor Gysi, der in seiner 2 Parteien sah) nicht angemessen oder zeitgemäß wäre, weil eine rot-rot-grüne Regierung gar nicht zur Abstimmung gestellt wurde. Man kann sagen das die Angstmacherei vor der Opposition kein anderes Mittel als das der Konservativen vor Rot-Rot-Grün ist, und es könnte nicht einmal bestritten werden.
Aber all das würde der Debatte nicht helfen. Ob man die Generaldebatte hätte führen müssen, beispielsweise um die Verankerung der Partei in der Gesellschaft, etwa des Durchschnittsalter und der beendeten Erwerbsbiographie der meisten Genossinnen und Genossen wegen, wage ich zu bezweifeln, hätte es doch der Debatte in Spielfilmlänge gut getan wenn sie sich auf das Wesentliche konzentrieren hätte dürfen. All das kann man vernachlässigen, hat es doch mit dem zur Abstimmung stehenden Vertrag rein gar nichts zu tun.

Dinge die es tun sind für mich folgende:

Um mit den Worten einer erklärten „Gegnerin Großer Koalitionen“ zu sprechen: »Danke für sensationelles Geburtstagsgeschenk« hätte ich auch ausgesprochen. Denn mal abgesehen von ein paar Einzelmeinungen in den Medien trifft das Mitgliedervotum im 150. Jahr ihres Bestehens doch die Seele der Partei. Eine einsam und allein getroffene Entscheidung für eine Große Koalition hätte während der darauf folgenden vier Jahre verheerende Konsequenzen auf die Parteibasis gehabt, indem das Mitgliedervotum die Legitimation auf eine breite Parteibasis stellt ist der Mobilisierungsgrad jetzt vermutlich ähnlich wie der in vier Jahren, anstatt peut a peut durch falsches Regierungshandeln zu erodieren.

Das Mitgliedervotum in der sozialdemokratischen Blogosphäre

In einem Bericht eines Ohrenzeugen der SPD Regionalkonferenz in Hofheim am Taunus werden Gegner dieses Koalitionsvertrag (nicht zu verwechseln mit: Gegnern der Großen Koalition) leider abermals diskreditiert, eine Methode die ich leider in Bezug auf die Entscheidungsfindung zum Koalitionsvertrag nun schon öfter gesehen, gehört und gelesen habe. Da habe ich gleich mal kommentiert:

Wieder werden, wie nicht einmal 36 Stunden nachdem das 186-seitige Vertragswerk veröffentlicht wurde, Gegner dessen als nicht zeitgemäß dargestellt, mindestens jedoch wird denen die anderes als eine Saalschlacht („Stürmungen des Veranstaltungsraums“) erwartet haben unterstellt sie seien „nicht auf der Höhe der Zeit“.

Mit Verlaub: Es gab zwar Entwürfe, und Einzelentscheidungen, aber die Parteispitze um Sigmar Gabriel, die zugleich Verhandlungsführer waren, erbaten doch mit Kritik zu sparen, bis das Vertragswerk unterzeichnet und veröffentlicht war.

Das dann nicht einmal ein Kalendertag danach eine inhaltliche Diskussion angesetzt wird, ist in Ordnung. Die 24 Redebeiträge zeugten auch von einer inhaltlichen Auseinandersetzung.

Und Sigmar hat seinen Job der Verteidigung des Koalitionsvertrags insgesamt auch gut gemacht, wenngleich ich Emotionalisieren (Bilder von ostdeutschen Tariflosen beispielsweise und O-Töne SPD-Sympathisanten und zugleich Nutznießern, …), Drohgebärden („entscheidet über die nächsten 20-30 Jahre“, Knüpfen des Ausgangs des Mitgliedervotum an den Vorsitze der Parteispitze, …).

Unredlich finde ich das alles noch gar nicht, es ist der Versuch die Parteibasis davon zu überzeugen das nicht alles schlecht ist im Koalitionsvertrag.
Das er sich aber hinsetzt und behauptet der Mörder von Jungsozialisten sei in Norwegen der Vorratsdatenspeicherung wegen gefasst worden, das ist widerwärtig und wäre für mich das erste Ausschlusskriterium.

Drei solcher Kröten habe ich mir gesetzt. Das der Mindestlohn erst im Superwahljahr 2017 eingeführt werden soll zählt für mich als zweites. Und ich kann jedem Genossen nur raten den ganzen Vertrag zu lesen und die (meinetwegen auch für ihn) wesentlichen Teile zu verstehen, bevor er sich dafür oder dagegen ausspricht.

Um den an diesem Abend folgendermaßen zitierten Willy Brandt nochmal zu bemühen »Fortschritt ist eine Schnecke, aber messen lässt er sich doch.« Messen lässt sich auch der Koalitionsvertrag, und nur der steht zur Abstimmung. Bildet euch eine unabhängige Meinung, lasst euch nicht über „überparteiliche, unabhängige“ Kanäle beeinflussen. Aber das muss man einer selbstbewussten Parteibasis ja ohnehin nicht sagen.

  1. O-Ton Sigmar Gabriel an dem Abend: „Nicht über eines, sondern alles.“ []
  2. Szenario: Mal angenommen die Bundesregierung beschließt auf Druck von CDU/CSU den Export von Waffen in die Dritte Welt. Darüber dürfte der Bundestag erst im Jahr darauf in Kenntnis gesetzt werden, und was die dortige Zweidrittelmehrheit dann damit macht, ist ihr lt. letztem Kapitel des Koalitionsvertrag selbst überlassen. Die Opposition hätte also bis zum Wahlkampf nicht einmal Gelegenheit sich auf die Volksparteien, weil ihr Entscheidungen in der Sache erst zugänglich gemacht werden, wenn nicht nur die Lieferungen ausgeführt wurden, sondern vielmehr das Rüstungsgut vielleicht schon im Einsatz ist. Und wie schnell ein moderner Rechtsstaat sich in eine Diktatur entwickeln kann, kann man derzeit in Asien und in den letzten Jahren im arabischen Frühling sehen. []
  3. und vor allem mit ALG 2, vulgo: Hartz IV []
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