Die neue Reisefreiheit, das Leben der Anderen und der jedwed entgrenzte Klassenkampf

Reisefreiheit war das unmittelbarste Rechtsgut, das den Bürgern der DDR geschenkt wurde, als die Mauer fiel. Man konnte seine Entfaltung an den heimischen Fernsehgeräten verfolgen – live vermutlich nur im Westen. Der Herr Politiker verplapperte sich, die Schlagbäume fielen, massenhaft Trabanten schwappten über noch schwer gesicherte Grenzposten, all das im Beisein der NVA, deren Schießbefehl noch gültig war. Mit dem Begrüssungsgeld konnte man sich zwar nicht in das „freiheitlichste“ Land der Welt, die USA, befördern, doch mindestens eine Tankfüllung wäre drin gewesen, um die neu gewonnene Reisefreiheit einem spontanen Realitätscheck zu unterziehen.

In der Folge verscherbelte Treuhand das letzte Tafelsilber der DDR für einen Apfel und ein Ei, und in direkter Konsequenz gingen bereits massenhaft Arbeitsplätze verloren. Wer seinen Job nicht sofort verlor, hatte trotz allem ganz andere Probleme als eine Reise über den großen Teich, zum „Imperialisten“ und „Klassenfeind“. Wenn uns die Unterhaltungsbranche gern eine romantische Geschichte zweier junger Leute erzählt, die als Rucksacktouristen und Individualreisende gleich nach dem Zusammenbruch des „Arbeiter- und Bauernstaates“ rübermachen, dürfte es sich hierbei mehr Nachwende-Ostalgie handeln. Die Realität mag anders ausgesehen haben als die Versprechen von Helmut Kohl und seiner CDU: Die blühenden Landschaften waren allenfalls in Industriebrachen zu finden, manifestiert in zwischen stillgelegten Maschinen sprießenden Grasbüscheln. Das Geld war knapp, und wurde auch nicht mehr dadurch, das sich das Lohnniveau prozentual nicht angleichen mochte – und noch heute unter dem im Westen liegt. Leih- und Zeitarbeit sei dank, können sich Reisewillige zum Teil weit unter Mindestlohn allerhöchstensfalls einen Bildband zusammensparen. Nun also ist es nicht mehr der fiese Sozialismus, dessen eiserner Vorhang und der dort herrschende Schießbefehl, vielmehr kapitalistische Hürden, die der Reisefreiheit ihre Grenzen setzt.

Nicht anders sieht es beim ehemaligen Klassenfeind aus: Gut situierte Staatler können sich trotz wunderschöner Naherholungsziele Fernreisen leisten, während der durschschnittliche Arbeiter immerhin nicht mehr ohne Krankenversicherung leben muss. Trotzdem können auch die Amerikaner, zumindest offiziell nicht überall hin. Ein Besuch beim Klassenfeind, dem größten Inselstaat der Karibik, Kuba nämlich, ist verboten, aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten ins Nachbarland fliegen wird mit empfindlicher Strafe geahndet. Viele Amerikaner machen daher einen Umweg über Kanada und Mexiko, um von dort unbemerkt nach Havanna und darüber hinaus zu kommen. Weh dem, der dann Bilder von seiner Reise ins Internet stellt und von seinen Freunden verpfiffen wird, denn die Strafverfolungsbehörden sind gehalten Hinweisen auf Verstöße gegen das Ausreiseverbot nachzugehen. Den Kubanern hingegen steht seit kurzem in Aussicht, sich ohne vorherige Genehmigung ins Ausland zu begeben, in die dröge USA und darüber hinaus. De facto genießen kubanische Staatsbürger damit eine weiter reichende Reisefreiheit als ihre Nachbarn – zumindest auf dem Papier, und das ist geduldig, so lang es nicht grün bedruckt ist. Doch zurück zur DDR und seinen nunmehr (selbst-)befreiten Bürgern: Der ehemalige sozialistische Bruderstaat ist für die Bürger der DDR a.D. nun tatsächlich ebenso bereisbar, wie der ehemalige Klassenfeind in den fernen USA. Damit nicht genug, sind sogar die Neubundesländ’ler damit den US-Bürgern voraus. Auch hier wieder nur auf dem Papier, denn wer wenig verdiet, teils gerade einmal rund 3 Euro pro Stunde Tariflohn, der wird sich über Langstreckenflüge in die Karibik keine Gedanken machen.

Und so stellt sich 20 Jahre nach Ende des Eisernen Vorhang heraus: Es war garnicht die tödliche die dem Menschen unwürdigste Barriere, vielmehr läuft der Klassenkampf grenzen- und gnadenlos, mit einem selbst ernannten Gewinner, dem einen Prozent auf der einen Seiten, und Milliarden Verlierern auf der anderen.

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