Anonymität in den Grenzen des Anstands

Meinungsfreiheit kennt im wiedervereinten Deutschland keine Grenzen – könnte man meinen. Pressefreiheit als Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten könnte knapp 20 Jahre nach der kommerziellen Öffnung des Internet der Vergangenheit angehören – könnte man meinen. Doch wie weit es mit dem emanzipierten Bürger 2.0 ist, dazu lasse ich mal meinen Parteivorsitzenden von vor zwei Jahren zu Wort kommen:

(…) lebendige Demokratie braucht einen politisch gebildeten Staatsbürger bzw. Staatsbürgerin. (…) Aber wer sich anschaut, was am Nachmittag in Deutschlands Fernsehsendern läuft, oder wer einmal in manche politischen Blogs im Internet schaut, in denen die Anonymität scheinbar jede Grenze des menschlichen Anstands beseitig hat, oder wie wenig noch Zeitungen gelesen werden, der bekommt eine Ahnung, liebe Genossinnen und Genossen, wie dringend nötig unser Land auch wieder eine Initiative für politische Bildung hat.1

Damit dürfte auch gemeint gewesen sein, Mancher beteilige sich am politischen Diskurs nur deshalb anonym, weil das Netz ihm das ermögliche. Und es unterstellt das sich diejenigen andernfalls nicht oder gemäßigt in die Debatte einbringen würden. Das ist ein gravierendes Missverständnis der Blogs, von Twitter und in Foren. Wenn sich dort oder darüber jemand anonym oder unter Pseudonym äußert, nimmt ein Recht wahr, das ihm ohne Netz nicht zur Verfügung stand: Das Recht freier Meinungsäußerung ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Wenn es das Netz erlaubt, sich anonym zu äußern, wird Vorratsdatenspeicherung erlauben den Anschein der Anonymität im Nachhinein zu lüften. Und auch deshalb, zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Vertreter indirekter Demokratie, hat Sigmar „Siggy Pop“ Gabriel und eine Vielzahl mehr oder weniger verdienter Spitzenpolitiker meiner glorreichen Freiheit liebenden Partei auch 2011 noch Vorratsdatenspeicherung als alternativlos für Alles erklärt und sich damit eines möglichen Wahlsieg 2013 beraubt.

Wer sich das „Recht“ anonymer Meinung heute heraus nimmt, wird oft allein deshalb diskreditiert oder nicht ernst genommen, egal wie zutreffend oder ernsthaft die Eingabe gemeint ist. In meiner Partei beispielsweise pflegt man die Diskussion in der Lokalpresse genau zu beobachten, und offenkundig von Parteimitgliedern lancierten Kommentare in schöner Regelmäßigkeit als Unding zu geißeln. Das die selben Personen in der Vergangenheit keine Gelegenheit ausgelassen haben in Vieraugengesprächen ihre Anonymität zu beanspruchen – wodurch das Ergebnis von Abstimmungen und Wahlen Leser früher bekannt war als der eigenen Partei, scheint die selben Personen nicht zu interessieren.

Deutschland ist generell ein armes Land, was freie Meinungsäußerung angelangt: Wer sich auf Demonstrationen begibt, dessen Personalien werden erfasst. Wer bloggt, unterliegt Impressumpflicht, um Klagen und Abmahnungen zu erleichtern. Wer seinen Namen verschleiert, dessen Account wird auf Anfrage hin gelöscht. Wer allzu häufig seine Meinung artikuliert, gerät unter Generalverdacht, weil es der Großteil der Bevölkerung nicht macht. Diese Hemmnisse ließen sich vermutlich noch um hunderte andere Hinderungsgründe für einen deutschen Frühling ergänzen. In anderen Ländern jedenfalls gehen die Menschen unter Lebensgefahr auf die Straße, um ihre Meinung kund zu tun. In unserem Land erscheint das nicht möglich. Hier hat alles seine Ordnung.

Das nenne ich der Zukunft zugewandt.

  1. Quelle: Bewerbungsrede Sigmar Gabriel, S. 20, letzter Absatz, veröffentlicht als »Wortlaut des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel« unter »Gemeinsam für den Aufbruch« []
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